Lubomyr Melnyk

Corollaries

(Erased Tapes/Indigo)

Lubomyr Melnyk – Corollaries (Cover)Der moderne Mensch fühlt sich gestresst von Informationsflut, Innovationsdruck und Kreativitätsdiktat. Kein Wunder, dass er sich kleine Fluchten sucht, den Jakobsweg, das Yogastudio oder auch das Ambientkonzert. Unesoterische, „neoklassische“ Ambientmusik, wie sie etwa Nils Frahm und Ólafur Arnalds auf dem Erased-Tapes-Label veröffentlichen, erfreut sich derzeit einiger Popularität. Und so ist vielleicht gerade jetzt die richtige Zeit, den bislang nur Insidern bekannten (von diesen aber umso mehr verehrten) Komponisten und Pianisten Lubomyr Melnyk zu entdecken. „Wo wart ihr Jungs, als ich 30 war“, soll der mittlerweile 65-Jährige gesagt haben, als das Label ihm einen Vertrag anbot – „noch nicht geboren“, könnte die Antwort mancher seiner neuen Fans lauten. Melnyk hat seit den 1970ern eine eigene, „continuous music“ genannte Form des Pianospiels entwickelt, bei der in rasanter Geschwindigkeit gespielte Klaviertöne in faszinierenden Klangwellen aufgehen – aus denen manche Zuhörer schon Trompeten oder ganze Streichorchester herausgehört zu haben meinen. Mithilfe von Produzent Peter Broderick, Frahm und Martyn Heyne konnte das vor allem live überwältigende akustische Erlebnis adäquat auf einen Tonträger gebannt werden. Im Web zu findende Superlative wie „schnellster Pianist der Welt“ führen in die Irre: Die sechs langen Pianostücke, sparsam ergänzt durch Violine, Gitarre, Juno-Synthesizer und Stimme, fließen kontinuierlich dahin und ziehen den Hörer in den Bann, wie es manche der minimalistischen Klangkunstwerke von Steve Reich oder Philip Glass tun. Wer sich darauf einlässt, findet seinen Frieden mit der Welt.

Text
Guido Halfmann
, Jazz thing 98

Veröffentlicht am unter Reviews

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