Palaverkultur

Pit HuberGescheit daherreden, ohne etwas zu sagen zu haben: Bei welchem Thema funktioniert das besser als bei Jazz? Wie sympathisch ist dagegen die schlichte, aufrichtige Begeisterung von Pop-Fans: „Geht voll ab!“ – „Ist der nicht süß?“ – „Die Frau kann sich bewegen!“ – „Toller Beat!“ – Klassikhörer wiederum sind echte Auskenner: „Das Sostenuto in Takt 22 nimmt er sehr verhalten, fast wie Gilels 1939.“ Oder: „Der zweite Hornist hat im Finale wirklich gepatzt, gleich zweimal!“ – Jazzhörer dagegen schwadronieren irgendwas über die von Monk beeinflusste, durch Sardonik gebrochene Improvisations-Strategie des mittleren Sonny Rollins, faseln von der über Coltrane hinausweisenden multifunktionalen Modalspielweise eines McCoy Tyner und erklären dir ungefragt, dass Art Pepper weder der heißeste Westcoast-Jazzer war noch der coolste Hardbopper, sondern eigentlich der einzige Vertreter des südkalifornischen Spät-Bebop.
 
Meine Erfahrung sagt: Jazzkritiker wird nicht, wer sich im Jazz am besten auskennt, sondern wer am längsten darüber quatschen kann. Ich kenne da Kollegen, die kann man am Ende eines Sets aus dem Schlummer rütteln und dann analysieren die sofort wie auf Knopfdruck das von ihnen verschlafene Konzert. Gib ihnen nur irgendein Stichwort – zum Beispiel: Mark Turner – und sie legen los: Warne-Marsh-Schule, klar, aber doch mehr von Ted Brown beeinflusst, in der Phrasierungsästhetik ist auch Lee Konitz mit drin, dann ist da natürlich auch noch das schwarze Element, also eigentlich ein vermarsh-konitzter Black-Brown-Schüler usw.
 
Oder auch genau das Gegenteil, wer weiß. Denn schließlich ist Jazz ja vieldeutig, vielstimmig, vielsagend. Das Improvisieren schlauer Einsichten ist geradezu ein Wesenszug des Jazz und führt uns direkt zum Kern dieser Musik. Denn was ist ein Jazzsolo anderes als der Versuch, sich spontan auftrumpfend in Szene zu setzen? Was ist eine Jamsession, eine Tenor Battle, wenn nicht eine Art willkürlich vom Zaun gebrochener Diskussion? Afrikanische Ratsversammlungen, Gospel-Gottesdienste, Voodoo-Rituale, die kollektive Improvisation: Immer produzieren sich Einzelne aus dem Publikum vor dem Publikum. Und andere halten dagegen, können es noch besser, führen ihren eigenen Monolog. Und dann reden alle durcheinander.
 
Wovon in Jazzsoli die Rede ist, will man daher eigentlich gar nicht wissen. Leute wie Jon Hendricks haben es trotzdem mal aufgeschrieben. Da predigt Charlie Parker: „Well, I‘ve heard that people‘re often classified as ‚before their time‘. Silly as it seems, people do it ’n really they don’t know there ain’t nothin‘ to it. No, I‘m not ahead, you‘re behind, so really I don’t mind.“ Na eben: Gescheit daherreden, ohne etwas zu sagen zu haben. Irgendwie die Essenz des Jazz. Ich will es mal so wenden: Jazzkränzchen, Leserbriefseiten, Online-Foren und Weblogs sind das natürliche Habitat der Jazzkultur. Palaverkultur. Na, genug geplappert für heute.
 
Pit Huber

Veröffentlicht am unter Blog thing

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3 Kommentare zu „Palaverkultur“

  1. Problem erkannt! Deshalb tue ich mich auch so schwer mit Plattenkritiken, Konzertkritiken oder den üblichen Beschreibungen vor einem Konzert, was man da hören wird.

    Jazz läßt sich ungeheuer schwer beschreiben. Weil das so ist, können manche Dummschwätzer gescheit daher kommen. Natürlich braucht es auch noch Leute die weniger den eigenen Ohren vertrauen als den Kritikern.

  2. Vielleicht eine Spätfolge der klassischen Linernotes? Die Aufgabe, ständig auf’s Neue LP-Cover voll zu schreiben mit mikroskopisch kleinen Buchstaben über Musik, die in der Regel an 2 Nachmittagen aufgenommen wurden: Das kann ja an einem Berufsstand nicht spurlos vorübergehen. ;))

  3. Dass Jazz-Kritiken großteils ärgerliches Bla-Bla sind, sehe ich genauso, und dieser Blog hier übertrifft noch manches. Aber deshalb sind keineswegs alle Texte über Jazz und jeder Austausch in Foren sinnlos – absolut nicht! Ich finde auch nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit Jazz als Hörer immer noch wichtige Anregungen. Ich fände es gut, wenn man sich z.B. hier um ernsthafte Aussagen bemühen würde, die wirklich wert sind, dass man sie liest. D.h. keineswegs, dass sie allgemeingültig sein müssen – das ist in diesem Bereich ja kaum möglich. Aber es gibt eine Menge Gedanken, Betrachtungsweisen, Hintergründe usw., die den Blick auf den Jazz bereichern.