Ohrenblinzeln
Es war wie jedes Jahr: Die einen schleppen einen Berg Geschenke an, die anderen auch und die dritte Familien-Abordnung ebenfalls. Und dann startet die große Weihnachtspäckchen-Wechseltransaktion, du mir, ich dir, eins gegen eins. Manche Geschenke passen, die meisten passen nicht, manche sind nur ein Gag, manche ein sanfter Affront, viele sind unpersönlich, lieblos, ein hilfloser Akt der Verlegenheit.
Zuweilen denke ich, es wäre besser, jeder und jede würde sich zu Weihnachten einfach selbst beschenken – mit dem, worauf er oder sie wirklich so richtig abfährt. Und dann würde man das Geschenk, das man sich selbst macht, im trauten Kreis der Verwandten genüsslich auspacken. „Onkel Gerhard hat sich eine Autorennbahn gekauft!“ – „Monika schenkt sich doch tatsächlich ein schwarzes Negligé!“ Da würden wir einander wenigstens mal ein bisschen kennenlernen.
Von meiner Erbtante bekam ich dieses Weihnachten drei Herrentaschentücher geschenkt. Reinweiß, feinfädig, 100 Prozent Baumwolle. Aber wer, bitte, benutzt heute noch Stofftaschentücher? Spätestens seit diesem Sketch, in dem Mr. Bean in die Tasche seines Sakkos rotzt, hat doch jeder normale Mensch Hemmungen, ein wiederverwendbares Taschentuch zu benutzen, das man dann feucht wieder einstecken muss. Deshalb: Nase putzen, Tuch wegwerfen – das ist heute das einzig hygienisch-ethisch Mögliche. Sollte mich die Erbtante je auf ihr Geschenk ansprechen (es kam mit der Post), dann werde ich wohl sagen müssen: Ja, gute Tücher, haben ihren Zweck erfüllt, wurden umgehend entsorgt!
Von Onkel Gerhard bekam ich ein Doodle-Buch. Darin kann man herumkritzeln, wenn der Gesprächspartner am Telefon wieder mal kein Ende findet. Nur: Was soll ich damit? Erstens führe ich keine langweiligen Telefongespräche, sondern beende sie rechtzeitig mit dem Hinweis, dass ich ganz dringend den Apfelkuchen aus dem Ofen holen muss. Zweitens telefoniere ich entweder mit dem Handy oder zumindest schnurlos: Soll ich dabei vielleicht das „Telephone Doodle Book“ immer mit mir rumtragen? Und drittens kritzle ich zwar gerne, halte das aber für einen Akt subversiver Spontaneität und tiefenpsychologischer Abreaktion und nicht für eine Ausmal-Arbeit nach Buchvorlage. Schon aus Jon Hendricks‘ Lyrics zu Horace Silvers „Doodlin‘“ erfährt man: Die besten Doodle-Flächen sind Innenwände von Telefonzellen sowie Tischtücher in besseren Restaurants.
Apropos Gedudel. Vitus, ein begabter Musikstudent, schenkte mir zu Weihnachten eine CD, die er mit zwei Kommilitoninnen eingespielt hat. Natürlich beherrschen die drei ihre Instrumente, das darf man bei Musikstudenten doch voraussetzen. Hätten sie eine schlichte Rokoko-Sonate eingespielt, wäre daraus vielleicht eine nette Hintergrundmusik zur Vernichtung des Weihnachtsbratens geworden. Aber nein: Sie mussten unbedingt über Jazzstandards improvisieren. Entstanden ist ein belangloses und ausdrucksloses Töne-Gedudel und Töne-Gekritzel, wie es jeder hinbringt, der weiß, welche Noten zu welchem Akkord gehören. Man sollte schon einen Grund haben, wenn man improvisiert.
Mein Lieblingsneffe überraschte mich zu Weihnachten mit einem großformatigen Jazz-Wandkalender für 2011. Darüber habe ich mich riesig gefreut. Denn erstens brauche ich immer Wandkalender, damit ich die Termine für meine Blog-thing-Beiträge langfristig im Auge habe, und zweitens mag ich – ganz grundsätzlich und unbefristet – Abbildungen von Jazzmusikern. Die im Kalender reproduzierten Jazz-Gemälde sind zwar keine Meilensteine der Kunstgeschichte, haben aber immerhin keine sachlichen Fehler. Die Saxofonisten halten die linke Hand über der rechten Hand. Auf dem Klavier kommen auf sieben weiße Tasten fünf schwarze Tasten. Das ist doch schon mal was.
Die Bilder (der Maler heißt Keith Mallett) sind aber auch künstlerisch nicht ganz ohne. Ich als ausgewiesener Kunstexperte prüfe das, indem ich die Augen zusammenkneife und mit den Lidern blinzle, bis ich die abgebildeten Personen und Gegenstände nicht mehr erkennen kann. Wenn mir dann das Bild (so als abstraktes) immer noch gefällt – die Formen, Farben, Kontraste –, dann ist es gute Kunst, basta.
Viele meinen ja, Free Jazz sei wie abstrakte Malerei. Würde man also bei einem herkömmlichen Jazzstück die Ohren zusammenkneifen und mit den Ohrenlidern blinzeln, bis Chorusformen und Akkordfolgen nicht mehr wahrnehmbar sind, und würde die Musik dann (so als rein abstrakter Free Jazz) immer noch gut klingen – die Läufe, Strukturen, Klänge, Räume, Dynamik –, dann wäre es wohl auch guter Jazz. Das sollten Musikstudenten auf jeden Fall früh lernen, um ihr Urteilsvermögen zu schulen. Geschenke wie Vitus‘ Dudel-CD blieben einem dann vielleicht erspart. Na ja, ich werde sie schon wieder loswerden. Spätestens bei der großen Weihnachtspäckchen-Wechseltransaktion 2011.