Stolpersteine: Der Jazz-thing-Lockdown-Roundtable, Teil 3

[11.5.2020]

Berlin (Stadtplan)

Die Not ist groß, die Perspektiven, die sich aus der Krise ergeben, sind vielfältig. Im dritten und abschließenden Teil des Roundtables zu den Folgen von Corona und Lockdown für den Jazz und seine Umgebung geht es um einen Blick in die Zukunft und über den eigenen Tellerrand hinaus.

Wolf Kampmann: Martin hat das Wort Streaming in die Runde geworfen. Ist Streaming eine Tugend in der Not oder eine aus der Krise geborene Perspektive für die Zukunft, nicht nur um neues Publikum zu generieren, sondern auch als neue Ausdrucksform? Wo liegen die Chancen und Gefahren im Streaming?

Norbert Oberhaus: Wir haben ja in Köln mit der ClubKomm seit vier Wochen ein Solidaritätsstreaming aufgesetzt. Damit konnten wir für die Clubszene 35.000 Euro Spenden einsammeln. Das drittelt sich in jeweils 33 Prozent für den Club, die Künstler und Künstlerinnen sowie die Produktion. Das ist nicht viel, aber besser als nichts. Es funktioniert aber nur aus dem Solidaritätsgedanken heraus. In den letzten Wochen wird Streaming immer mehr als heißes Ding gehandelt. Da erleben wir dieselben Phänomene, die wir ohnehin aus der Popszene kennen. Je nach Klicks fordern die Künstler ihre Gagen ein, und das ganze Streaming wird total kommerzialisiert. Sicher ist es eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, aber ich bin ehrlich gesagt ein wenig genervt, dass da schon wieder all diese Marktmechanismen greifen.

Stefanie Marcus: Ich kann nur hoffen, dass das keine Dauerlösung wird. Als Tonträgerhersteller sowieso. Die Einnahmen, die daraus im Nicht-Highend-Künstlerbereich generiert werden, sind genauso erschütternd wie die aus Spotify oder Youtube. In unserer Szene macht das eigentlich alles kaputt.

Julia Hülsmann: Ich glaube auch nicht, dass das bleiben wird. Vielleicht hoffe ich das auch nur. Wobei ich das Streaming als Notlösung, um mit den Hörern in Kontakt zu bleiben, durchaus gut finde. Aber bevor wir allzu sehr schwarzmalen, will ich mal einen kreativen Gedanken einwerfen. Ich habe mich sehr über eine Idee aus Monheim gefreut. Da hätte ich genau heute ein Konzert spielen sollen. Die Monheimer haben sich nun folgendes einfallen lassen. Auf einem größeren Gelände, das sowieso für das Festival geplant war, haben sie ein Autokino für Jazzkonzerte eingerichtet. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie man sich auch etwas einfallen lassen kann. Es gibt sogar eine Gage dafür. Das einzige Problem besteht in der Übernachtung, weil ja die Hotels derzeit alle geschlossen sind.

Nils Wogram: Es gibt auch ganze Festivals, die als Stream durchgeführt werden. Ich weiß das aus Moers und vom Schaffhauser Festival. In Schaffhausen gibt es auch die ganz normalen Gagen. Es sollte dort eine international besetzte Band auftreten, zu der all die Mitmusiker nun nicht kommen können. Statt ihrer wurden einheimische Musiker als Sub gefragt. Auch ich wurde dafür angefragt. Das wäre der erste bezahlte Gig, den ich in der Corona-Zeit hätte. Abgesehen von einem Begräbnis.

Wolf Kampmann: Worin liegen denn neben allen Gefahren und Verlusten, von denen bis jetzt die Rede war, die Chancen, die wir aus der gegenwärtigen Situation mitnehmen können?

Norbert Oberhaus: Eine Chance sehe ich darin, dass die Organisationsbereitschaft bei Künstlern und Soloselbständigen deutlich erhöht wird. In der Not rauft man sich zusammen. Die Solidarität trägt uns durch diese Zeit. Es wird auch viel Kreativität freigesetzt, sich gemeinsam Gedanken um die Zukunft zu machen. Das sind die Dinge, die ich positiv sehe.

Steffen Wilde: Je nachdem, wie lange sich das noch hinzieht, werden auch noch neue Sachen entstehen. Mit den Streamings fing es an, um überhaupt den Leuten im Kopf zu bleiben. Aber das reicht eben nicht auf die Dauer. Man muss in diesem Format auch neue Ideen entwickeln. Niemand weiß, wie lange der Lockdown noch anhalten wird. Wie sich all das dann auf die Live-Szene auswirkt, ist wiederum eine ganz andere Frage.

Nils Wogram: Wir organisieren auch bandintern Zoom-Meetings und sagen uns, lass uns heute Abend mal ein Bier zusammen trinken. Dabei tritt eine große Wertschätzung an den Tag. Vieles, was man im Alltag und im Beruf als selbstverständlich hinnimmt, bricht plötzlich weg. Allein in unserer kleinen Gruppe spürt man plötzlich ganz anders den Zusammenhalt. Auch die Entschleunigung empfinde ich als positiv. Trotzdem wünsche ich mir, dass sie begrenzt bleibt. Nicht nur ich, sondern auch viele andere Menschen in der Kunstszene sind meist wahnsinnig gehetzt. Man muss immer dranbleiben, noch mehr Gigs spielen, noch mehr E-Mails schreiben und beantworten. Noch mehr Posts, noch mehr Reisen, noch mehr Verkehr. Plötzlich geht das nicht mehr, und das hat auch seine guten Seiten.

Martin Laurentius: Gezwungenermaßen wurden wir alle aus dem Hamsterrad geworfen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, einige Dinge und auch uns selbst zu hinterfragen. Die Streaming-Konzerte sehe ich sehr wohl als Auftrag, die digitalen Voraussetzungen in der Kultur noch viel mehr als kreative Möglichkeit in unsere Arbeit zu integrieren. Nicht nur als Substitut für ausgefallene Konzerte oder als Promotion-Tool. Für den Pop weiß ich es nicht genau, aber der Jazz funktionierte bis Corona mehr oder weniger analog. Das Live-Konzert stand im Mittelpunkt des Schaffens. Jetzt sind wir gezwungen, uns auf die Welt des Digitalen zu verlegen. Gerade für mich als Journalist betrachte ich es als Aufgabe, darüber nachzudenken, wie man das Digitale nicht nur als Promotiontool oder Distributionsweg begreifen, sondern auf eine kreative Ebene heben kann. Ich habe irgendwann die Aussage eines Künstlers gelesen, das Internet sei nichts anderes als eine neue Leinwand, die bemalt werden will. Das ist ein positiver Aspekt, den ich aus der Krise mitnehme und mir auf die Agenda schreibe.

Julia Hülsmann: Für mich persönlich ist die Entschleunigung gerade rechtzeitig gekommen. Man verschwendet so viel Energie. Es ist gar nicht so blöd, darüber mal nachzudenken. Der Solidaritätsgedanke könnte auch übrigbleiben. Auf dem Zusammenhalt, der jetzt entsteht, kann man aufbauen. Vielleicht entsteht durch die Krise eine größere Sensibilität dafür, dass es noch mehr Solidarität braucht. Ich selbst bin momentan gezwungen, online zu unterrichten. Dagegen gibt es ganz viel Widerstand. Es heißt, instrumentalen Online-Unterricht könne man nicht leisten. Ich habe dagegen das Gefühl, mein Unterricht kann um ganz neue Komponenten erweitert werden. Ich mache mir gerade viele Gedanken um meine Studenten. Was kann ich denen sinnvoll mitgeben? Vielleicht führt uns diese Art des Unterrichts auf ganz andere Wege. Ich höre anders hin, wenn die mir etwas aufnehmen. Viele Musiker aus meiner Umgebung hatten früher bei dem Fernpädagogen Charlie Banacos Unterricht, unter ihnen mein Mann Marc Müllbauer. Das sah so aus, dass sie Kassetten bespielt und besprochen haben, die dann zwischen Amerika und Deutschland hin und her geschickt wurden. Viele Kollegen sagen, das wäre der beste Unterricht, den sie je hatten. Genau das versuche ich jetzt auch. Die Studenten nehmen etwas auf, schicken es mir, und ich sage etwas dazu. Das Digitale könnte sehr helfen, über bestimmte Dinge neu nachzudenken und nicht immer das Gleiche zu machen.

Stefanie Marcus: Ich würde mir wünschen, dass sich die Freundlichkeit und Offenheit, die ich in den letzten Wochen in der Kommunikation erlebt habe, auch in die Zeit nach Corona rüberrettet. Die gelungenen Ansätze von Solidarität finde ich teilweise bemerkenswert. Wichtig ist mir aber auch, dass wir mal über die Grenzen gucken, wie die Situation in den USA, Brasilien, Spanien, Italien und an den EU-Außengrenzen ist. Bei aller Not, die hier nachvollziehbar von allen Beteiligten formuliert wird, haben wir es doch im Vergleich zu anderen Ländern wahnsinnig gut. Das muss man auch mal richtig laut sagen.

Wolf Kampmann: Das sind erstaunlich viele gute Ansätze. Eine kleine Bagatelle möchte auch ich noch beisteuern. In den letzten zwei Wochen stolpere ich ganz oft, weil ich ständig in den Himmel glotze. Ich finde es so schön, dass man keine Kondensstreifen und dafür nachts in Berlin einen klaren Sternenhimmel sieht, dass ich allzu oft die Bordsteinkanten und Unebenheiten auf dem Pflaster aus dem Auge verliere.


Teil 1: Die Kollateralschäden sind enorm
Teil 2: Krise als Auftrag


Text
Wolf Kampmann
Foto
openstreetmap.org (CC BY-SA)

Veröffentlicht am unter viral/postviral

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