Die Kollateralschäden sind enorm: Der Jazz-thing-Lockdown-Roundtable, Teil 1

[30.4.2020]

Berlin (Stadtplan)

In der Welt des Fußballs ist man schnell übereingekommen, dass es in Zeiten der Pandemie wichtigeres gibt als Fußball. Seither können wir in den Medien täglich lesen, wie es um Vereine und Profifußballer bestellt ist. Wie verhält es sich aber mit dem Jazz? Wie gehen Musiker, Veranstalter, Labels und Medien im Jazz mit dem Lockdown um?

Zu einem virtuellen Roundtable unter dieser Fragestellung trafen sich am 24. April die Pianistin Julia Hülsmann, der Posaunist Nils Wogram, die Chefin des Labels Traumton, Stefanie Marcus, der Leiter des Dresdener Jazzclubs Tonne Steffen Wilde, der Veranstalter des Festivals c/o pop, Norbert Oberhaus, der Jazz-thing-Redakteur und -Autor Martin Laurentius und als Moderator Wolf Kampmann. Das etwa 70-minütige Gespräch werden wir in drei Teilen online stellen.

Wolf Kampmann: Wie geht es euch mit dem Lockdown?

Nils Wogram: Man kann schon sagen, das ist eine Katastrophe. Wir feiern dieses Jahr ein Band-Jubiläum mit Root 70. 2019 haben wir bewusst nicht gespielt, um uns auf zwei Tourzeiträume 2020 zu konzentrieren. Mitte bis Ende März hätten wir 15 Konzerte gehabt, an die sich drei Porträt-Auftritte im Moods in Zürich angeschlossen hätten. Wenn 18 Konzerte am Stück wegfallen, ist das auf allen Ebenen bitter. Wenn man wüsste, wie lange das so weitergeht, könnte man wenigstens für danach planen. Aber so ist die ganze Szene verunsichert. Manche Leute sagen mir, ich hätte jetzt alle Zeit der Welt, um mich um zeitaufwendige Projekte kümmern zu können. Aber ich habe drei Kinder, und das Homeschooling ist wirklich anspruchsvoll. Die Kinder sind immer zu Hause, es muss Essen auf den Tisch, und man muss etwas mit ihnen machen. Hauptsächlich beschäftige ich mich mit dem Thema, wie man an Geld kommen kann. Die in Aussicht gestellten Nothilfen kann ich nicht beantragen, da ich noch nicht in einer Notsituation bin. Noch kann ich meine Miete bezahlen, aber ich weiß nicht, wie das in ein paar Monaten aussieht. Es gibt eine Stelle in Zürich, bei der man Kompensation für ausgefallene Gagen bekommen kann. Aber gilt das auch für Konzerte in Deutschland und kann ich davon die Gagen meiner Mitmusiker zahlen? Die Kollateralschäden sind enorm. Alle meine Mitmusiker gehen leer aus. Zum Glück haben die keine Regress-Forderungen gestellt. Meine Agentin hatte schon erwogen, einen anderen Job anzunehmen, aber ich zahle ihr wenigstens die Hälfte der Provision, die sie bekommen hätte. Ansonsten gärtnere ich und arbeite an einem Solo-Programm.

Martin Laurentius: Ich habe im Rahmen meiner Corona-Berichterstattung in den letzten zwei Wochen mit mehr als 40 Musikern, Veranstaltern und Kollegen gesprochen. Die Planungssicherheit ist bei allen komplett weg. In Deutschland kann man nicht weiter als bis zum 31. August denken, und niemand weiß, ob die Maßnahmen danach verlängert werden. Diese Unsicherheit lähmt das eigene Engagement. Ich fühle mich anders als vor Corona. Ich habe zwar nicht wenig zu tun, und doch hänge ich zwischen Baum und Borke. Die Frage, wann und wie alles wieder losgeht, betrifft meinen beruflichen Alltag enorm.

Julia Hülsmann: Wir waren vom 3. März an unterwegs in Zentral-Amerika. Schon da dachte ich mir, mal sehen, was kommt. Ich musste täglich, manchmal sogar stündlich Rücksprache halten, was wir tun. Eigentlich wären wir drei Wochen unterwegs gewesen, aber Guatemala mussten wir auslassen, weil wir da wohl nicht mehr rausgekommen wären, und in Mexiko mussten wir nach knapp zwei Wochen abbrechen. Ich habe gar nicht erst gezählt, wie viele Konzerte letztlich ausfallen, weil ich das zu frustrierend fand. Eine Kollegin sagte mir, ihre Konzerte wären bis Ende des Jahres abgesagt. Das sind Verluste im fünfstelligen Bereich. Ich persönlich habe das große Glück, dass ich gerade noch rechtzeitig eine Festanstellung an der Universität der Künste bekam. Meine Familie ist finanziell abgesichert. Mein Sohn ist homeschoolingtechnisch zum Glück kein Problem, aber ich finde es trotzdem erstaunlich, wie schnell so ein Tag vorüber geht, obwohl man bis zum Abend nur E-Mails beantwortet, eingekauft und gekocht hat. Aber die Lehrbeauftragten sind viel schlimmer dran. Die Studierenden dürfen bestimmte Inhalte auf das nächste Semester verschieben, obwohl das Semester schon läuft. Für viele Lehrbeauftragte fallen damit nicht nur die Gigs, sondern auch die Unterrichtsjobs weg. Da brennt es gerade richtig. Die Politik hat noch nicht begriffen, dass es da ein ernsthaftes Problem gibt. Wenn nicht nur ein, sondern alle Standbeine wegbrechen, wird es echt hart.

Stefanie Marcus: Mir persönlich geht es gut. Ich bin gesund, guter Dinge und habe auch starke Nerven. Aber das ist schon eine fordernde Situation. Mit einer Ausnahme haben wir alle Veröffentlichungen in den Herbst verschoben. Und was für den Herbst vorgesehen war, muss ich wiederum ins nächste Jahr schieben, denn immer mehr Stimmen sagen, es würde dieses Jahr gar keine Konzerten mehr geben. Mein Umsatz ist im letzten Monat auf ein Drittel gesunken und geht ab nächsten Monat wahrscheinlich gegen Null. Das betrifft das Label, ich mache mir aber auch große Sorgen um die Vertriebe. Wenn die Läden wieder öffnen, kann auch wieder etwas abfließen, aber es wird trotzdem nicht Priorität sein, CDs einzukaufen. Und Amazon hat sich auf andere Produkte kapriziert. Die ordern im Buch- und CD-Bereich nicht mehr nach. Über alledem schwebt als große, graue Wolke die Verlagsseite. Da alle Konzerte abgesagt sind und die Veröffentlichungen wegfallen, wird es im nächsten Jahr auch nahezu keine Verlagseinnahmen geben. Ich bin froh, dass ich nicht mehr 40 bin und für die nächsten 25 Jahre planen muss. Ich versuche jetzt, alles auf Sparflamme zu halten und notfalls mit privatem Geld zwischenzufinanzieren. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass ich irgendwann die Notbremse ziehen muss. Im Moment bin ich noch gemäßigt optimistisch.

Norbert Oberhaus: Heute wäre die c/o pop gewesen. Wenn ich aus dem Fenster schaue und da noch die Plakate hängen sehe, blutet mir das Herz. Für uns war seit März klar, dass es eine c/o pop nicht geben wird. Wir konnten von uns aus nichts absagen, weil die damalige Verfügung nur bis zum 20. April galt und für die Zeit darüber hinaus die Rechtsgrundlage fehlte. Informell wussten wir, dass es die Veranstaltung nicht geben wird, und wir versuchten alles, um weitere Kosten zu vermeiden. Insofern steckten wir in einer wochenlangen Zitterpartie, die viele Nerven kostete. Gar nicht zu reden von meinem 15-köpfigen Team. Auch das sind ja Arbeitsplätze. Gleichzeitig bin ich Mitbegründer der Klubkomm in Köln. Wir haben einen Hilfsfonds für die Clubs eingerichtet, weil die Clubs am längsten betroffen sein werden. Und ich kann kein Festival machen – wann auch immer – wenn es keine Clubs mehr gibt. Die Soforthilfe von Land und Bund wird selbst für den kleinsten Club nicht ausreichen, um über den Sommer zu kommen. Also ging es erstmal um Feuerlöschen, Kämpfen, Teamführen und Selbstmotivieren. In dieser Woche habe ich erstmals das Gefühl, das Virus kommt auch bei mir selbst an. Ich bin wahnsinnig erschöpft. Meine Existenz steht auf dem Spiel. Das Festival haben wir jetzt in den Oktober geschoben. Aber da bleibt immer noch die Unsicherheit, was ich im Oktober überhaupt machen kann. Ich brauche also einen Plan B und C, wie man das Festival unter eingeschränkten Verhältnissen durchführen kann. Was passiert, wenn ich dann immer noch keine Zuschauer reinlassen darf? Das weiß ja jetzt noch niemand. Unter all diesen Umständen die Kreativität aufrecht zu erhalten, ist schwierig.

Steffen Wilde: Bei uns ist seit Anfang März nichts mehr los. Alles wurde abgesagt. Wir verstehen uns gut mit allen Musiker und Agent, aber die Absagen mussten ja trotzdem auf rechtliche Füße gestellt werden. Viel größer ist aber jetzt das Problem, dass niemand weiß, wann und wie es wieder losgehen kann. Einige unserer Vorhaben sind nach 2021 gewandert, anderes wurde auf den Herbst verschoben. Aber kann man im September schon wieder irgendwas machen? Werden größere Konzerte möglich sein? In die Tonne passen 350 Leute, aber nie und nimmer werden wir in dieser Größenordnung wieder Veranstaltungen durchführen können. Hat man für diesen Zeitraum teure Konzerte gebucht, lässt sich das mit 50 Besucher, die vielleicht am Anfang zugelassen sind, nicht finanzieren. Somit zieht sich alles immer weiter nach hinten. Wir versuchen mit allen Partner Ausweichtermine zu finden, die aber stets mit einem Vielleicht und Hoffentlich verbunden sind. Ansonsten haben wir hier diverse Rettungsaktionen für die Clubszene in Dresden starten und auch schon erfolgreich abschließen können. Das Clubnetz Dresden konnte mit einer Spendenaktion sehr viel Geld einsammeln. Das Feedback zeigte uns, dass die Clubs nicht nur den Musiker, sondern auch dem Publikum fehlen. Da geht es nicht nur um das Wegbrechen der Auftrittsmöglichkeiten, sondern den Leuten liegt die Kultur am Herzen. Die Tonne hat es geschafft, in den letzten Jahren Rücklagen zu bilden, aber wir wissen nicht, wie lange wir die aktuelle Situation durchhalten. Spätestens im Herbst müsste es wieder losgehen. Im Moment können wir nur abwarten und schauen, wie es weitergeht.


Teil 2: Krise als Auftrag
Teil 3: Stolpersteine


Text
Wolf Kampmann
Foto
openstreetmap.org (CC BY-SA)

Veröffentlicht am unter viral/postviral

Deutscher Jazzpreis 2024