Im Westen nichts Neues!

[13.4.2020]

Berlin (Stadtplan)

Wer würde nicht ab und an schweißgebadet aus einem Traum erwachen, der ihn um Jahrzehnte zurückgeworfen und alles, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten passiert ist, negiert hat. Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen sind an sich schon surreal genug. Als filmischen Plot hätte man sie wohl für überzogen befunden, als Verschwörungsszenario brüsk von sich gewiesen. Und doch hat sich die Lebenswirklichkeit in allen Bereichen drastisch verändert. Das Frühlingsgemisch aus Zweckoptimismus, Fatalismus und kollektiver Depression kennt zwischen Ost und West, Stadt und Land kaum Grenzen. Und doch ist es in Teilen Berlins anders als in den meisten deutschen Städten.

Die Straßen sind abgesehen von den Magistralen leer. Nur selten kommt ein Auto vorbei. Parkplätze sind ausreichend vorhanden. Wo sind sie nur alle hin, die Autos? Der Blick ins Universum wird nicht von einem Gitter aus Kondensstreifen gefiltert. Wie schön! Doch das ist auch schon die einzige Freiheit, die uns die neuen Umstände bescheren. Ansonsten ist die Bewegungsfreiheit in einer Konsequenz begrenzt, die wohl niemand für möglich gehalten hätte. Es zieht sich zwar keine Mauer aus Beton durch die Stadt, doch Polizei-Patrouillen verhindern, dass sich die Berliner mehr Freiheiten nehmen, als ihnen zugestanden werden.

Überhaupt ist die Polizei allgegenwärtig. Zusammenrottungen von mehr als zwei Personen werden umgehend aufgelöst. Vom Recht auf Versammlungsfreiheit spricht man im Moment ebenso wenig wie von Datenschutz. Ich wohne im tiefsten Osten Berlins, eine Fahrt in den Westteil kommt derzeit nicht infrage. Die Menschen gehen sich aus dem Weg, nicht nur zwischen Ost und West, sondern Nachbarn, Kollegen, selbst innerhalb der Familie.

Die Supermärkte bemühen sich, der ins Absurde gesteigerten Nachfrage nach bestimmten Produkten standzuhalten. Man kauft, was man wegtragen kann. Und was man nicht selbst braucht, kann man ja vielleicht tauschen. Backpulver gegen Klopapier, Q-Tips gegen passierte Tomaten. Leere Regale als asketischer Gegenentwurf zum Massenkonsum.

Dass der öffentliche Raum – so es ihn noch gibt – still geworden ist, liegt nicht nur am partiellen Verstummen der Motoren. Musik hat sich komplett aus dem gesellschaftlichen Alltag verabschiedet. Wurde man bis vor wenigen Wochen aus allen Rohren in Cafés, Geschäften, Verkehrsmitteln, ja selbst auf Straßen und Plätzen, in Parks und Unterführungen beschallt, so ist die Kakophonie der Musikstadt Berlin komplett zum Erliegen gekommen. Bis auf weiteres keine Konzerte mehr. Auch die in Italien und Spanien so beliebten Balkon-Konzerte scheinen hier nicht zu funktionieren. Da selbst ein Großteil der Neuveröffentlichungen von Musik verschoben wurde, setzt plötzlich die verloren geglaubte musikalische Erinnerung wieder ein. Gegen den Trübsinn hilft ein beherztes Entstauben der Plattensammlung. Welche Schätze finden sich …

Eine ganz andere Angelegenheit als die sicht- und greifbaren Dinge sind die Bedrohungen und Unsicherheiten, die sich auftun. Das Unbegreifliche. Die Pandemie und ihre medizinischen Folgen kommen da weit weniger ins Spiel als die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Auswirkungen, die auf jeden einzelnen und uns alle zukommen. Die Situation kann sich stündlich ändern. Ein von Entscheidungsträgern gegebenes Wort kann schon wenige Stunde später nicht mehr gelten. Auf welche Information kann man sich noch verlassen? Nachrichtensendungen werden zu Verlautbarungskanälen. Man verlässt sich auf den Staat, vertraut ihm aber nicht mehr. Was mag da noch auf uns zukommen, und wie will man jemals wieder zur Normalität zurückfinden?

Was uns zum Anfang zurückführt. Woher kennen wir all diese Zustände? Richtig, aus der DDR. Ohne in irgendeiner Weise die Notwendigkeit der aktuell ergriffenen Maßnahmen in Frage stellen zu wollen (schon Friedrich Engels sagte, Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit), erinnern doch viele Symptome an die Ost-Berliner Normalität vor dem Mauerfall. Mit einem wesentlichen Unterschied. Die D-Mark wird uns diesmal nicht retten, denn der Westen ist von dem Albtraum genauso betroffen wie der Osten. Im Westen nichts Neues, willkommen in der DDR.

Und das ist vielleicht die einzig gute Nachricht in der ganzen Misere. Was Mauerfall und der Zusammenschluss zweier deutscher Staaten vor 30 Jahren nicht vermocht haben, das gelingt jetzt vielleicht jenem dekorativen Virus, das den gesamten Planeten bedroht: Die Wiedervereinigung Deutschlands.

Text
Wolf Kampmann
Foto
openstreetmap.org (CC BY-SA)

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