Zirkus

Lili LamengDiesen Sommer habe ich – abgesehen von kleineren Ausflügen und Besuchen bei Freunden – hauptsächlich in Leipzig verbracht. Die Auftragslage war und ist wie fast jeden Sommer desolat. Ich nahm mir daher vor, einfach das schöne Sommerwetter und die urlaubshalber nur halb bewohnte Stadt zu genießen. Meine Nachbarin Susanna, deren Tochter Mathilda nunmehr schon fast vier Jahre alt ist, musste in ihrer Boutique die Stange halten, da die Kollegin mit den schulpflichtigen Kindern ihren Urlaub in der Ferienzeit nehmen musste.
Einen größeren Teil meiner freien Zeit verbrachte ich daher mit einer noch Dreijährigen und fühlte mich so durch die Stille der Stadt und meine Begleiterin in meine eigene Kindheit zurückversetzt. Oder in eine Kindheit, wie sie hätte sein können. Oder in andere mögliche Leben.

Täglich gingen wir in Pfeifers Eisdiele, ein magischer Ort, der noch aussieht wie zu seiner Entstehungszeit in den fünfziger Jahren. Dort gibt es Eisbecher mit Apfelmus und Eierlikör, wie wunderbar altmodisch. Mathilda und ich genossen diesen Sommer dort je eine Kugel Eis aus der Tagesproduktion. Kein neumodisches Schlumpfeis oder andere Extravaganzen. Die erschöpfen sich bei Pfeifers dankenswerterweise in gelegentlichem Mango- oder Kokoseis.

Die Krönung meines Sommers mit Mathilda war jedoch unser Besuch im Zirkus Frankello. Auch bei Pfeifers hatten die Werbezettel für den kleinen Zirkus ausgelegen, und am letzten möglichen Tag machten wir uns auf den Weg zur Festwiese. Schon von weitem sahen wir das leuchtend blaue Zelt, eine Barnum und Bailey Welt im Kleinen.
Ich selbst war als Kind nie im Zirkus, wusste aber um diese Welt aus Büchern wie „Der Löwe ist los“. Einer meiner Klarinettenlehrer war einmal ein Jahr mit einem Zirkus durch Italien gereist, ein Thema, das den Großteil meines Unterrichts bei ihm füllte und mich zu Tagträumen inspirierte: Die Schlangen beschwörende Klarinettistin. „Salomé“ von Robert Stolz spielen und dabei den Tanz mit den sieben Schleiern improvisieren. Später las ich „Zirkuskind“ von meinem Lieblingsautor John Irving. Zirkus, eine faszinierende, ganz eigene Welt.

Mathilda hatte schon von ihren Kindergartenfreundinnen gehört, dass es eine wunderbare Seiltänzerin zu bestaunen gäbe. Die Vorstellung war nur mäßig besucht. Eltern und Großeltern mit Kindern. Alle voller Vorfreude.

Und dann ging es los. Die Zirkuskapelle begann zu spielen: Keyboards, Schlagzeug, Posaune und Trompete. Der junge Trompeter stand in der Mitte der Manege und huldigte mit seinem Solo der Seiltänzerin. Blaues Licht, Spot auf die beiden Hauptpersonen. Mathilda war von der Tänzerin begeistert und freute sich auf den Spagat, den ihre Freundinnen ihr angekündigt hatten. Unermüdlich und mit aufgeblähten Backen feuerte der Bläser die Tänzerin an. Und siehe da, am Ende kam der ersehnte Spagat.

Schon da war ich von Herrn Frankello Junior begeistert. Doch dann zog er sich zu der Kapelle zurück. Der Posaunist verschwand für den Rest der Vorstellung. Später war er als Dompteur mit Pferden und Kamelen wieder da. Der Trompeter spielte nun Posaune, im Wechsel mit Trompete, und zwar fast ohne Pause. Dazwischen machte er Ansagen. Dann trat er als Artist auf, eine Balancenummer mit übereinander gestapelten Stühlen, auf denen er beid- und einarmig Handstand machte, vier Stühle übereinander.

Schon bei der Ponydressur spielte er wieder Trompete. Die Vorstellung ging über zwei Stunden. Ich stellte mir vor, ich sei er. Zwei Stunden totale Hingabe, Konzentration, Körperbeherrschung. Nicht, dass ich akrobatische Talente hätte. Ohne ihn kann sein Zirkus sicher nicht existieren. Wer kann schon die halbe Band sein, moderieren, Kunststücke ausführen und dabei noch blendend aussehen? Später dann kam er als Kunstreiter in die Manege. So absolut für eine Sache da sein, und das in dieser Vielseitigkeit! Ich bin noch immer beeindruckt! Seitdem übe ich mit Mathilda Kopfstand, wir müssen unsere Körperbeherrschung verbessern. Mit Schleiern tanzen können wir schon. Ich improvisiere über „Salomé“. Noch verheddern sich die Schleier beim Spiel in den Saxophonklappen.

Veröffentlicht am unter Blog thing

jazzfuel