Phrasolalie

Pit HuberDas wollte ich noch erzählen. Am Pfingstwochenende habe ich meinen kleinen Neffen besucht, der inzwischen behauptet, „ein großer Neffe“ zu sein. Ich hatte ihn auch an Weihnachten und Ostern besucht und hatte da immer ein richtiges Geschenk dabei; diesmal nicht. Etwas vorwurfsvoll fragte mein kleiner großer Neffe: „Wozu ist Pfingsten eigentlich gut, wenn man da nichts geschenkt kriegt?“ Ich wusste es auch nicht. Er wandte sich dann wieder seinen Wachsmalkreiden zu.
 
Hinterher habe ich versucht mich zu erinnern, was ich eigentlich über Pfingsten weiß. War das nicht so eine Art kollektiver spiritueller Orgasmus, der Beginn der Ritualgemeinschaft? Alle waren da halb weggetreten, plapperten in Ekstase, in heiligen, unverständlichen Sprachen. Man nennt das wohl Glossolalie.
 
Wahrscheinlich wurde beim Pfingstwunder der Scat-Gesang geboren, denke ich mir. Bebabaleba, dabebawoo-woo. Eine ekstatische Glossolalie, ganz von der Spannung des Augenblicks inspiriert. Und um den heiligen Augenblick geht’s doch eigentlich im Jazz. Auch ein Saxofonist auf dem Höhepunkt der Improvisation sagt sich ja nicht: Jetzt spiele ich einen schnellen Lauf die G-Dur-Tonleiter hoch, mache dann einen Bogen zu f-es-d-b, um danach… Quatsch! Er spielt rein intuitiv, rein begeistert, zum Vorplanen bleibt gar keine Zeit. Phrasolalie.
 
Im Grunde ist Jazz doch so eine Art säkularisierter Ritual-Ekstase und der Jazzclub ein letzter Rest Congo Square, wo sich an uns orgasmisch Weggetretenen ständig das Pfingstwunder wiederholt. Ein Nachbar, den ich mal in den Jazzkeller mitnahm, nennt Jazzfans seitdem nur noch „verwahrloste Halb-Autisten“; er hört lieber wieder seinen langweiligen Brahms. Also, ich finde es eigentlich passend, dass die Offenbarungsmusik von Moers immer gerade zu Pfingsten steigt.
 
Auch meinen Neffen habe ich mal zu einem Jazzkonzert mitgenommen: Swing auf dem Marktplatz mit Luftballons und Bratwürsten. „Woher weiß der Trompeter, welche Töne er spielen muss?“, fragte mein kleiner großer Neffe. Ich sagte: „Er weiß es gar nicht, er tut’s einfach so und es passt. Das ist Jazz.“ Das hat ihn dann eine Weile beschäftigt.
 
Kürzlich erzählte mir seine Mutter, sie hätte ihn gefragt, was sein neuestes Wachsmalkreiden-Werk eigentlich darstelle. „Nichts Bestimmtes“, soll er gesagt haben, „das ist nur einfach so, aber es passt. Weißt du, das ist Jazz.“ Er ist halt doch schon ein großer Neffe.
 
Pit Huber

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