Jazz, we coin!

Uwe Wiedenstried (Illustration)„Ich habe einen Traum: dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht nach der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.“

Dieser Satz ist 45 Jahre alt. Er stammt von einem Mann, der in dem langen Kampf, diesen Traum wahr werden zu lassen, sein Leben verlor – von Martin Luther King. Ein halbes Jahrhundert nach dem Spießrutenlauf der Schulkinder von Little Rock durch das Spalier einer spuckenden und geifernden Menschenmenge, ein halbes Jahrhundert nach dem Lynchmord an Emmett Till, ein halbes Jahrhundert nach der Verhaftung von Rosa Parks, ein halbes Jahrhundert, nachdem der Supreme Court die Rassentrennung aufhob, ein halbes Jahrhundert nach den Todesschüssen auf Malcolm X und Dr. King scheint er endlich gekommen, jener Tag. Jener Tag, den Martin Luther King schon vor 45 Jahren mit diesen Worten heraufbeschwor: „Es ist jetzt die Zeit, die Gerechtigkeit zu einer Realität für alle Kinder Gottes zu machen.“

Amerikaner haben gewählt. Sie haben zum ersten Mal einen Schwarzen, … nein, schwarz ist er nicht … einen Farbigen … nein, der Ausdruck ist von seltener Blödheit … einen Afro-Amerikaner … nein, das Wort trifft es auch nicht, denn sein Teint verrät, dass auch „Weiße“, also Europäer, unter seinen Vorfahren sein müssen; es gibt in den USA wenig reine Afro-Amerikaner, denn die Geschichte der Sklaverei ist auch eine Geschichte des Missbrauchs der Sklavinnen durch ihre Massas … ja, wie denn nun? Vielleicht so: Amerikaner haben zum ersten Mal einen Amerikaner gewählt, der unter seinen Vorfahren auch welche aus Afrika hat.

Dies ist eineinhalb Jahrhunderte nach „Onkel Toms Hütte“, einem Bürgerkrieg und den Verfassungszusätzen 13 und 14, die die Sklaverei verbieten und allen Bürgern gleiche Rechte zusichern, immer noch keine Selbstverständlichkeit. Diese Wahl ist ein prägendes Ereignis, eine Zäsur der Weltgeschichte, und dennoch wird sie bestenfalls in die Annalen der Numismatik, nie und nimmer aber in irgendein Geschichtsbuch eingehen. Zum allerersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika kommt das Bild eines Amerikaners, der unter seinen Vorfahren auch welche aus Afrika hat, auf die Rückseite einer Vierteldollarmünze, und kein Schwein nimmt davon Notiz.

Schuld daran sind mal wieder die Medien, denen man nichts und niemals etwas für bare Münze abnehmen sollte: Sendeminute um Sendeminute, Zeitungsspalte um Zeitungsspalte verplempern sie für Berichte über ein anderes Ereignis in den USA; ein Ereignis, über das jeder seriöse Journalist schweigen sollte, da jede Aussage darüber noch bloße Mutmaßung ist. Ob BILD, ob Al Jazirah, ob New York Times oder Iswestija, sie alle, alle posaunen diese unbestätigte Meldung in die Ohren der Welt: „Yes, he can! – Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten der USA gewählt!“

Fakten! Fakten! Fakten! – Wer der nächste Präsident der USA sein wird, kann heute niemand wissen. Am 4. November haben die Wähler/innen in den USA nicht über ihren zukünftigen Präsidenten abgestimmt, sondern lediglich über die Wahlmänner – oder nennen wir sie besser bei ihrem Terminus technicus: „Elektoren“, da es sich nicht nur um Männer handelt. Diese Elektoren haben am 14. Dezember in geheimer Abstimmung den neuen Präsidenten gewählt.

Zwar geloben die Elektoren aus 24 Bundesstaaten sowie aus Washington D.C., sich an das Wahlergebnis vom 4. November nach dem The-winner-takes-it-all-Prinzip zu halten und entsprechend abzustimmen. Dennoch bleiben sie bei ihrer Abstimmung ebenso frei und an keine Weisung gebunden wie die Elektoren der übrigen 26 Staaten, in denen es kein derartiges Gelöbnis gibt. Die Verfassung verlangt von keinem der 538 Elektoren, irgendeinem Gelöbnis oder irgendeiner Weisung zu folgen, wie der Informationsdienst „US Government Info“ (www.usgovinfo.about.com) in seinen Erläuterungen zum „electoral college“ ausdrücklich klarstellt.

Jeder Elektor macht es mithin allein mit sich und seinem Gewissen aus, wem er seine Stimme gibt. Die Stimmzettel der Elektoren befinden sich zurzeit in einem versiegelten Umschlag, der erst am 6. Januar 2009 um ein Uhr nachmittags vor beiden Häusern des Kongresses geöffnet wird. Erst dann werden die Stimmen ausgezählt. Erst dann können die Agenturen der Welt melden: Der neue Präsident der USA ist …
Vorausgesetzt natürlich, dieser nimmt seine Wahl dann auch am 20. Januar per Amtseid an.

Wenden wir uns also ab von diesem Trauerspiel des Journalismus, von dieser Kaffeesatzleserei, vom blendenden, weltweiten Medien-Spektakel um eine vage Vermutung, deren gigantischer Schatten das Lichtlein jener Wahl in den USA, der bislang als einzige das Prädikat „historisch“ gebührte, in seiner schwarzen Finsternis verschluckt.
Die Einwohner der Stadt Washington, District of Columbia, waren in diesem Sommer aufgerufen, per Stimmabgabe Welt- und Jazzgeschichte zu schreiben. 6089 Menschen, das sind stolze ein Prozent, folgten diesem Aufruf. Die US Mint, die amerikanische Münzprägeanstalt, gibt eine Gedenkmünzenserie von Quarter-Dollars heraus, mit der alle 50 Bundesstaaten, die überseeischen Territorien sowie der District of Columbia durch ein individuelles Design auf der Rückseite geehrt werden sollen.

Washington D. C. hatte seinen Einwohnern drei Entwürfe für die Rückseite seines Quarter-Dollars zur Wahl gestellt. Sie zeigten Persönlichkeiten aus der Geschichte dieser Stadt. Alle drei waren Amerikaner, die unter ihren Vorfahren auch welche aus Afrika hatten:
Benjamin Benneker war ein genialer Mathematiker, Astronom, Uhrenbauer und Landvermesser, der 1791 die dem Bund von den Staaten Maryland und Virginia überlassene Wildnis abmessen und kartieren half, auf der Washington D.C. erbaut werden sollte.
Frederick Douglas war Berater Abraham Lincolns in Angelegenheiten, die die ehemaligen Sklaven betrafen, und später Marshall und Richter für den District of Columbia. Edward Kennedy „Duke“ Ellington, 1899 in Washington geboren und aufgewachsen, muss man wohl niemandem vorstellen. Ellington machte knapp das Rennen: Laut Wahlergebnis vom 18. Juni 2008 votierten 36 Prozent für den Duke, 33 für Douglas und 31 für Benneker.

Der Washingtoner Quarter-Dollar kommt im Januar 2009 aus der Münzpresse. Er zeigt Ellington am Flügel. Die Ellington-Münze besteht zu fast 92 % aus Kupfer, der Rest ist Nickel. Sammler können sie auf Bestellung bei der US Mint auch als wertvollen „silver proof“ erhalten: 90 % Silber, 10 % Kupfer. Der symbolische Wert dieser Münze ist kaum zu ermessen: Endlich steht ein Amerikaner, der unter seinen Vorfahren auch welche aus Afrika hat, ein Genie, das jeden Vergleich mit Komponisten wie George Gershwin oder Igor Strawinsky besteht, auf einer Stufe mit den Flugpionieren Orville und Wilbur Wright (Quarter-Dollar aus North-Carolina), den Forschungsreisenden Meriwether Lewis und William Clark im Paddelboot (Missouri), Mount Rushmore (South Dakota), dem Scherenschwanz-Königstyrannen und der Kurzlebigen Kokardenblume (Oklahoma) sowie einem Kuhkopf, einem Käse und einem Maiskolben (Wisconsin).

Duke Ellington auf einem Vierteldollar! – Der Tag ist gekommen. Der Tag des Jazz, der einzigen Kunstform, die in den USA geboren wurde, ist gekommen: Er ist endlich, endlich in der Mitte der amerikanischen Gesellschaft angekommen. Der Tag der Amerikaner, die unter ihren Vorfahren auch welche aus Afrika haben, ist gekommen: Sie sind endlich, endlich in der Mitte der amerikanischen Gesellschaft angekommen.

Dr. Kings Traum wird wahr. Seine inzwischen erwachsenen Kinder und alle, die mit und nach ihm diesen Traum träumten, tragen ihn ab Januar in ihren Portemonnaies, in ihren Hosen- und Jackentaschen. Sie stecken das Ellington-Talerchen vielleicht einem Amerikaner, der unter seinen Vorfahren auch welche aus Afrika hat, zu, während er die Windschutzscheibe ihres Autos vor der roten Ampel wienert.
Vielleicht werfen sie es auch einem etwas älteren Amerikaner, der unter seinen Vorfahren auch welche aus Afrika hat, in den Hut, der mangels Arbeitslosenversicherung seine einzige Einnahmequelle ist, seit sich General Motors (je nach Gusto durch Ford oder Chrysler zu ersetzen) genötigt sah, ihn im Zuge der Finanz- nebst Absatzkrise auf die Straße zu setzen.

Viele Amerikaner, die unter ihren Vorfahren auch welche aus Afrika haben, könnten zusätzliche Ellington-Talerchen gebrauchen: Ihr Durchschnittseinkommen beträgt gerade mal die Hälfte von dem der „Weißen“. Amerikaner, die unter ihren Vorfahren auch welche aus Afrika haben, machen 15 % der Bevölkerung aus, aber mehr als die Hälfte der Gefängnisinsassen. Mit einem Job, der ihnen genug Ellington-Talerchen zum Leben einbrächte, gäbe es für viele keinen Grund mehr, mit Drogen zu dealen. Man könnte die Ellington-Talerchen auch der AIDS-Bekämpfung spenden; jedes zweite Kind, das in den USA an AIDS leidet, hat unter seinen Vorfahren auch welche aus Afrika.

Erst wenn es, mit Verlaub geschrieben, scheißegal ist, ob die Haut eines Menschen – ob so bekannt, dass sein Bild auf eine Münze geprägt wird, ob kleinster Leut aller kleinen Leute – mehr oder weniger dunkle Pigmente aufweist als die seines Mitmenschen, erst dann können wir sagen: Ja, das haben wir hinbekommen. Erst wenn Radio, Fernsehen und Zeitungen keine Sendesekunde, keine Zeile mehr darauf verschwenden, ob die Haut des nächsten Präsidenten der USA nun weiß, braun, schwarz oder wie-auch-immer-farbig ist, sondern ihn nur danach beurteilen, ob und wie sehr er dazu beiträgt, „Gerechtigkeit zu einer Realität für alle Kinder Gottes zu machen“, erst dann können wir sagen: Ja, das haben wir gekonnt. – Jazz, we coin!
Uwe Wiedenstried

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3 Kommentare zu „Jazz, we coin!“

  1. Gerade im Zusammenhang mit Jazz ist es falsch, den Begriff „Afro-Amerikaner“ mit der genetischen Abstammung gleichzusetzen. Afro-Amerika ist hier vor allem eine kulturelle Sache (die natürlich mit der „rassischen“ kompliziert verwoben ist). Kein Martin Luther King wollte es, dass sich alle afro-amerikanische Kultur und Identität in westlicher Einheitskultur auflöst. Es ist ja auch keine genetische Frage, wenn sich z.B. viele Alpenländer in Bayern und Tirol mit ihrer Volksmusik, ihrem Brauchtum und ihrer Lebensart identifizieren.

    Man könnte im Jazzbereich viel für die Afro-Amerikaner tun, indem man ihrer Kultur Respekt zollt und sie auch in der Gegenwart unterstützt. Das geschieht hier aber immer weniger. Stattdessen werden die „heimischen“ Musiker gepusht, die mit den (Afro-)Amerikanern heute massiv in Konkurrenz treten. Wenn sich hier jemand die Auflösung der Unterschiede zwischen „Schwarz“ und „Weiß“ wünscht, dann frag ich mich, ob es ihm nicht in Wahrheit darum geht, den Jazz vom Afro-Amerikanischen zu trennen, weißzuwaschen und in Besitz zu nehmen. Das ist es doch, was die „heimische“ Jazzszene seit einigen Jahren mehr als je zuvor umtreibt.

    Muhal Richard Abrams: „Seit Generationen läuft es darauf hinaus, dass sie die Schwarze Musik imitieren, sie von ihren Wurzeln trennen und dadurch ihre Herkunft verdunkeln. Und das ist bei den Leuten zur Gewohnheit geworden. Sie tun es quasi automatisch. Genau in dieser Zeit tun sie das auch. Und sie merken nicht einmal, dass sie uns beleidigen.“

  2. Bislang habe ich mich in der Regel kopfschüttelnd von dem hanebüchenen Blödsinn und der sprachlichen Ignoranz, wie sie in deinen, Mampf, Kommentaren zu Tage treten, abgewandt – Ironie ist jedenfalls nicht deine Sache. Selbst auf die Gefahr hin, dass du dich quengelnd in deine Ecke zurückziehst, dieser Blödsinn oben darf nicht unwidersprochen bleiben. Ist dir eigentlich klar, dass du mit deinem retardierend-grenzdebilen Schwachsinn einem unangenehmen, überaus dumpfen Rassismus das Wort redest?

    Achtung: Satire. Stichwort Segregation: Vielleicht sollte man die „Afro-Amerikaner“ z.B. in New Orleans (dort ist ja nach Katrina ausreichend Platz) zusammentreiben (Vielleicht als „Negroeland“ überschrieben?) – inklusive einer „Jazz-Ecke“ –, begafft und bestaunt von den „Mampfen“ dieser Welt? Und müssen die Weltverschwörungstheorien eines Abrams oder Max Roach nur deshalb richtig sein, weil sie Afroamerikaner sind?

    Ich kenne jedenfalls keinen „großen“ europäischen Musiker, dem es an Respekt vor den Leistungen der afroamerikanischen Jazzmusiker mangelt, gleichgültig, ob ein Enrico Rava, ob ein Peter Brötzmann, Peter Kowald oder Han Bennink. Und ich kenne keinen „großen“ afroamerikanischen Musiker, der sich in Bezug auf seine Kunst von „Rassenfragen“ leiten ließ bzw. lässt, gleichgültig, ob ein Miles Davis, ob ein Sonny Rollins, Cecil Taylor oder William Parker. Es sind oft solche Typen wie du, Mampf, die das Thema Rasse in Verbindung mit afroamerikanischer Kultur ins Spiel bringen. Und das bleibt unangenehm, nein: unerträglich, obwohl oder gerade weil es wohl gut gemeint ist.

  3. So persönlich beleidigend wird nur jemand, dem es an Argumenten fehlt. Natürlich gibt es jede Menge Verehrung unter europäischen Musikern für die afro-amerikanischen Vorbilder. Aber die europäischen Musiker kämpfen wie jeder auf dem Musikmarkt (und wie jeder auf jedem Markt) um Marktanteile. Sie haben in den letzten Jahren den Jazz in Europa mehr als je zuvor in ihren Besitz genommen und die Türen gehen für die Afro-Amerikaner in Europa zunehmend zu. Und immer wieder ist die Rede davon, dass der Jazz nicht mehr den Afro-Amerikaner gehöre, sondern allen, dass die bedeutendsten Entwicklungen in Europa stattfänden usw. usw.. Tatsächlich passiert in Europa jedoch nicht das Geringste, das auch nur irgendwo in der Nähe eines Coltrane oder Charlie Parker bestehen könnte.

    Bei diesem Blog-Beitrag von Uwe Wiedenstried fragte ich mich: Auf was will er hinaus? Was hat das mit Jazz zu tun? Und mir fällt auf, dass er Afro-Amerika irgendwie verschwinden lassen will. Er sagt ja regelrecht, es gäbe in Wahrheit ja gar keine Afro-Amerikaner, sondern nur Leute, die „unter ihren Vorfahren auch welche aus Afrika haben“. Die meisten freuen sich, mit Obama einen „Schwarzen“ als Präsidenten zu sehen (auch wenn das keineswegs schon das Paradies bedeutet), Wiedenstried will hingegen einen Farblosen. In politischer Hinsicht verstehe ich ihn schon (auch wenn dieser Traum von der Gleichheit aller reichlich unrealistisch ist).

    Wenn ich diesen Traum aber auf den Jazz-Bereich beziehe, dann bekommt dieser Wunsch nach Farblosigkeit eine ganz andere Bedeutung: Das Herausragende im Jazz (Armstrong, Parker, Coltrane usw.) ist „schwarze“ Kultur und diese „Schwärze“ ist bis heute eine essentielle Eigenheit dieser Kultur. Das kann man gerade an den heutigen europäischen Entwicklungen sehen: Sie gehen so beharrlich wie eh und je in eine andere Richtung als die Armstrong-Parker-Coltrane-Linie. Bei den Europäern wird der Jazz klassisch gefärbt, lyrisch, stimmungsvoll oder zur „modernen Kunst“ („experimentell“ usw.), mit europäischer Folklore, Opern-Arien usw. vermischt … Jan Garbarek bringt es in dem Film „Play Your Own Thing“ auf den Punkt: Sie haben gegenüber dem, was Charlie Parker machte, nicht die geringste Chance und können daher nur etwas anderes machen – eben ihr eigenes Ding.

    Das ist auch völlig okay so. Nur: Ich stehe auf diese Armstrong-Parker-Coltrane-Sache. Ich stehe auf diesen „schwarzen“ Jazz und will nicht, dass er von der eigenen Sache der Europäer verdrängt wird. Und wenn Uwe Wiedenstried die Farblosigkeit predigt, dann protestiere ich eben ein wenig – auch wenn das den Eigeninteressen von europäischen Musikern nicht in den Kram passt. Meinen Eigeninteressen als Hörer sollte ich doch wenigstens irgendwo auch ein bisschen Ausdruck verleihen dürfen – oder kommt es Hörern nicht zu, eine eigene Meinung und eigene Bedürfnisse zu haben?