Ornette Coleman @ 80

Die Harmolodics-Zentrifuge

Ornette Coleman’s Meltdown

Elvis Costello, Laurie Anderson, Robert Wyatt, Patti Smith und Massive Attack, viele kuratierten schon das avancierte, jährlich stattfindende Meltdown Festival in der Londoner Royal Festival Hall. Im letzten Jahr war es „Ornette Coleman’s Meltdown“: Erstmals oblag es einem Jazzmusiker, das Programm zu gestalten. Es wurde zu einem Meilenstein der Musikgeschichte.

Ornette Coleman's Meltdown (Poster)

„Ornette Coleman’s Meltdown“ riss Genregrenzen nieder, war unberechenbar und Ornette in bester Spiellaune. Über die neun Tage des Festivals stieg er selbst bei vielen der von ihm geladenen Bands ein. Etwa bei der Hip-Hop-­Band The Roots: Neben Coleman machten da der energetisch explodierende David Murray und der 91-­jährige Tenorsaxofonist Andy Hamilton die Performance zu einer krachenden Party. Coleman wirkte zunächst ein bisschen wie ein verwirrter Großvater in der Disko, griff dann zu seinem Plastik-Alto, und die Arena war umgehend von ihm erobert. Coleman spielte mit der Yoko Ono Plastic Ono Band, begegnete Patti Smith und absolvierte ein Ad­-hoc-­Duett mit Bobby McFerrin. Eine Woche voller querständiger musikalischer Geister, mit Gitarristen wie Bill Frisell, James Blood Ulmer und Marc Ribot, wurde an den beiden Abschlusstagen noch übertroffen.

Hier kam nach The Bad Plus Colemans alter Weggefährte Charlie Haden mit seinem Liberation Music Orchestra auf die Bühne, außer Carla Bley und Matt Wilson fast vollständig mit britischen Musikern besetzt. Überraschenderweise hatte diese spezielle Besetzung mit Londoner Cats mehr „Attack“ als die offizielle amerikanische Variante. Gastsolist Robert Wyatt konnte – von Coleman gebeten – seine Bühnenphobie überwinden (auch eine kleine Sensation) und sang zwei Stücke, eins davon der ergreifende „Song For Che“. Der Abend knisterte vor Spannung, schließlich war auch der Einstieg von Coleman angekündigt. Doch der Meister ließ auf sich warten. „Ich höre, er sei unterwegs zu uns“, verkündete Haden etwas enttäuscht und trieb seine Band in eine 20-­minütige Improvisation zur Überbrückung des Wartens. Als Coleman noch immer nicht eintraf, wurde das für ihn reservierte „Skies Of America“ ohne ihn gespielt; dabei konnte dann der britische Altist Jason Yarde glänzen. Als Haden am Ende traurig verkündet, er hätte Ornette doch so gern hier in den Arm genommen, wackelt dieser gerade herein, für Haden unmerklich, weil hinter ihm, fast slapstickartig. Zur musikalischen Umarmung sollte es aber doch erst am letzten Abend kommen. Da spielte Ornettes Quartett mit seinem Sohn Denardo an den Drums, Tony Falanga am Kontrabass und Al McDowell am gitarrenähnlich klingenden E­Bass.

Ein Klassiker nach dem anderen wird von Coleman abgeschossen, ohne Ankündigung, Einzählen oder Blickkontakt zu seinen Musikern. Auf Altsax, Trompete und Geige wirken Coleman und seine „Reflections Of The Shape Of Jazz To Come“ paradoxerweise etwas altersmilde und dennoch zupackend frisch zugleich. Aufgeheizt wird die Performance durch Bachir Attar & The Master Musicians of Jojouka. Das hypnotische nordafrikanische Trommelgewitter, das Flirren der schrill schreienden Blasrohre vermengt sich mit Ornettes Band zu einem trancehaften Soundgewölk: Harmolodics at its best! Die Gast-­Performance von Baaba Maal bremst eher, aber als Flea, der E­Bassist von den Red Hot Chili Peppers, einsteigt, wird das Ganze durch dessen stupende Virtuosität und Härte extrem angeschärft. Flea erweist sich als absoluter Coleman-­Kenner, und die absurde Schlacht mit drei Bässen funktioniert genial. Der vierte Bassist des Abends sollte erst noch kommen. Es war Charlie Haden, der im Duo mit Ornette dessen „Lonely Woman“ intonierte – der Höhepunkt des Abends und wohl auch des Festivals. Stehende Ovationen, Coleman wird stürmisch gefeiert und badet regelrecht in der Zuneigung des Publikums: „We love you, Ornette!“, hört gar nicht auf, den sich am Bühnenrand drängenden Fans einzeln die Hand zu reichen – und fällt dabei fast über eine Monitorbox ins Publikum.

Ein merkwürdiger Kontrast etwa zu den Filmen, die zuvor im Foyer liefen: „Ornette: Made in America“ und „1959 – The Year That Changed Jazz Forever“ zeigen den Avantgardisten Coleman im Kontext der rassistischen, ihn absolut missverstehenden und diskriminierenden 50er­ und 60er­-Jahre in den USA. Doch jetzt ist das ganze Southbank Centre im Coleman-Rausch: Ein vielköpfiges Tanztheater führt zu Coleman-­Sounds im Foyer vor, was sie über eine Woche lang in der „School of Harmolodics“ einstudiert haben. Den Harmolodics scheint man gar nicht mehr entkommen zu können. Ornette, einst Giftmischer per se, auf dem Höhepunkt der Anerkennung, altersmilde zwar, aber des Unzähmbaren Zähmung gelingt wohl auch durch diese frenetischen Heiligsprechungen nicht, die ihm hier in London widerfahren.

Text Guenter Hottmann

Text
Christian Broecking, Guenter Hottmann, Götz Bühler
Foto
Arne Reimer, Nomo michael hoefner / www.zwo5.de (Own work) [CC-BY-3], via Wikimedia Commons

Veröffentlicht am unter 110, Feature, Heft

jazzfuel