Ornette Coleman @ 80

Wie Ornette Coleman die Welt veränderte.

Eine O-Ton-Collage von Christian Broecking.

Ornette Coleman by Nomo michael hoefner / www.zwo5.de (Own work) [CC-BY-3], via Wikimedia CommonsDen Bassisten Charlie Haden verbindet mit Ornette Coleman eine jahrzehntelange Zusammenarbeit und Freundschaft. Er war bereits bei Colemans erstem Auftritt mit dessen erster eigener Band in New York dabei: „Ich bin stolz darauf, dass ich Ornette Coleman traf und Teil dieser musikhistorischen Nachkriegsbewegung wurde. Einer der größten Momente meines Lebens war es, als ich Pat Metheny mit Ornette Coleman zusammenbrachte und wir gemeinsam die Platte ‚Song X‘ aufnahmen. Wenn Sie mich fragen: eine der besten Platten, die je gemacht wurden. Dieses einmalige Erlebnis, wenn die Noten verschwinden und alles zum Sound wird. Ich bin kein Held. Ich tue nur das, was ich tun muss. Was die bedeutenden Künstler des Jazz eint, ist ihr nahezu unstillbares, verzweifeltes Verlangen, etwas gänzlich Neues zu gestalten. Ornette und ich haben viel darüber gesprochen, dass der Musik zu begegnen sei, als hätte man vorher noch nie Musik gehört, als würde man sie gerade erst erfinden. Für das Publikum mag das manchmal vielleicht schockierend sein, aber es kann dabei auch eine Erfahrung machen, die man nie wieder vergisst. Das versuche ich, meinen Studenten zu vermitteln, dass es in der Musik darum geht, menschlich und kreativ zu sein. Ich nehme mein Instrument und spiele, ich riskiere jede Minute meines Lebens dafür.

Ich fühle mich Ornettes Musik sehr verbunden. Er hat die Welt mit seiner Musik verändert. 1976 wurden Dewey Redman, Ed Blackwell, Don Cherry und ich von einem italienischen Produzenten gefragt, ob wir eine gemeinsame Aufnahme machen wollten. Wir spielten dann auch Kompositionen von Ornette. Ein Stück von Dewey Redman hatte den Titel ‚Old And New Dreams‘, so kam es zum Namen für unser Quartett. Als die Platte bei Soul Note herauskam, wurden wir mit Konzertanfragen überhäuft. Wir liebten Ornette und seine Musik und wollten sie auch aufführen. Da es nur ganz, ganz wenige Musiker auf der Welt gibt, die mit seiner Methode vertraut sind, lag es nahe, dass wir seine Musik spielen. Eine Ornette­-Coleman-­Cover­-Band waren wir allerdings nicht.“


Haden machte den Gitarristen Pat Metheny mit Ornette Coleman bekannt: „Ornette ist ein Titel­-Genie, ihm fallen ad hoc die schönsten Bezeichnungen für seine Kompositionen ein. Ich habe das bei ‚Song X‘ ja unmittelbar erlebt; von allen Musikern, die ich kenne, hat er die besten Titel. Ich tue mich da wirklich extrem schwer. Ich komme im Laufe der Jahre selbst so auf 350 Kompositionen, das heißt, meine besten Titel-­Ideen habe ich bereits vor langer Zeit aufgebraucht. Es ist wirklich ein Kampf. Bei Ornette habe ich erfahren, dass ein guter Titel einen ganz eigenen Kontext eröffnen und Lust darauf machen kann, die Musik zu hören. Er kann helfen, den Leuten Zugang zur Musik zu verschaffen.“


Der Produzent Bruce Lundvall leitet die Firma Blue Note seit über 25 Jahren: „Ich kenne Ornette noch aus dem Five Spot, damals habe ich ihn mehrere Male dort gesehen. Und in meiner Zeit bei Columbia Records habe ich kurz mit ihm zusammengearbeitet. Er hat immer gute Honorare gefordert und sie auch erhalten. Alfred Lion wollte Ornette, Cecil Taylor, Don Pullen und George Adams bei Blue Note unter Vertrag haben, und ich denke, dass Jason Moran heute diese Tradition repräsentiert.“


In der Musik Ornette Colemans bewundert der Pianist Jason Moran die Verbindung von Komposition und individueller Freiheit: „Ich weiß nicht, wie er mit seinen Musikern kommuniziert. Ich wüsste gern, wie er sie ermutigt, dass die Musik so klingen kann. Sagt er wenig, sagt er überhaupt etwas? Für mich hat er es geschafft, den Musikern die größtmögliche Freiheit zu garantieren. So kühne Titel, so unerschrockene Kompositionen, so ein wagemutiges Spiel von einem so warmherzig und freundlich wirkenden Menschen. Mit Stücken wie ‚And Now We Interrupt For A Commercial‘ hat er die Regeln gebrochen, er hat der künstlerischen Freiheit einen neuen Inhalt gegeben. Ornette hat den Weg bereitet, den meine Generation heute geht.“


Jason Moran wurde von dem Altsaxofonisten und einstigen M-­Base-­Repräsentanten Greg Osby entdeckt und gefördert: „Ornette Coleman hat die Musik bereichert. Er hat eine neue Welt der Möglichkeiten für die improvisierenden Musiker eröffnet. Und er hat die Musik von überholten Restriktionen befreit. Er hat den Musikern neue Farben, ein neues rhythmisches Gefühl und den Mut zur Veränderung gegeben. Ohne seine Vision würden wir uns vielleicht immer noch an den Ketten der Tradition abarbeiten.“


Auf der Ornette­-Coleman-­Platte „Sound Museum“ (1994) spielte die Pianistin Geri Allen, bei ihrer letzten Aufnahme für Blue Note, „Eyes In The Back Of Your Head“ (1997), wirkte Ornette Coleman mit. Für einen kurzen Moment schien es wie die Rückkehr Colemans zu dem Label, für das er bereits 30 Jahre zuvor aufgenommen hatte: „Und damit konnten sie auch gar nicht umgehen. Bruce Lundvall hat die Idee unterstützt, das weiß ich. Doch die Leute bei Blue Note haben ansonsten eine besondere Gabe dafür, dich zu entmutigen. Musik, die herausfordert, die den Hörer auch mal provozieren mag, verkauft sich nicht besonders. Das ist ihr Argument gegen engagierte Musik. Meiner Meinung nach sollten sie aber gerade diese fördern. Sie sollten die Musiker und Konsumenten zum Hören ermutigen. Die CD war allein schon durch Ornettes Teilnahme etwas ganz Besonderes – historisch gesehen. Ornette macht in der Regel keine Gastauftritte bei Produktionen anderer Künstler, aber das war bereits zu viel des Guten von dem, was Blue Note verkraften kann. Schade, wenn man bedenkt, welche Meilensteine einst von einem Label gleichen Namens angeschoben wurden. Ornette hat früher mit Pianisten gespielt, mit Paul Bley zum Beispiel, doch das war ja an die 40 Jahre her. Dass Ornette später pianolos war, hatte vor allem mit seiner Vorstellung von Sound zu tun. Für mich war es deshalb wichtig, den Klang nicht zu reduzieren, sondern in jener Offenheit zu bewahren, die wir an Ornettes Musik so lieben. Ich suchte nach bestimmten Charakteristika, die ich dafür einsetzen konnte. So unterscheidet sich auf Ornette Colemans ‚Sound Museum‘ der Einsatz des Klaviers von Stück zu Stück.“


Für die CD-Wiederveröffentlichung von Ornette Colemans Blue-Note-Aufnahme „New York Is Now!“ war der Produzent Michael Cuscuna verantwortlich: „Für die Studio-Tapes hatte Ornette zahlreiche Fassungen aufgenommen. Das Stück ‚Broadway Blues‘ war ein Zusammenschnitt aus verschiedenen Versionen, die er an zwei unterschiedlichen Studiotagen aufgenommen hatte. Insgesamt erinnere ich mich an fast 20 verschiedene Aufnahmen des Stücks und ich nehme an, dass er an Auswahl und Schnitt der LP-Fassung maßgeblich beteiligt war. Doch diese vielen Aufnahmen mögen auch eine Ausnahme gewesen sein, da er hier mit Musikern wie Elvin Jones und Jimmy Garrison zusammenspielte, die nicht zu seiner damaligen Band gehörten.“


„New York Is Now!“ ist eine der ersten Platten, an die sich der Saxofonist Joshua Redman erinnern kann: „Als Kind habe ich das Innencover immer und immer wieder angeschaut, denn dort ist auch ein Foto von meinem Vater Dewey Redman abgedruckt. Ich bin ja nicht mit ihm zusammen aufgewachsen, deshalb war ich auch so stolz, ihn auf diesem Cover sehen zu können. Ornette hatte ihn kurz vor dieser Aufnahme dazu überredet, nach New York zu kommen. Als mein Vater dann wenig später ins Studio zu seiner ersten Aufnahme mit Ornette ging, waren Elvin Jones und Jimmy Garrison bereits da, und er erzählte mir später, er habe damals innerlich gezittert und geweint, so aufgeregt sei er gewesen, mit diesen Giganten eine Platte machen zu dürfen. Von all den Aufnahmen, die mein Vater mit Ornette Coleman zusammen gemacht hat, gefällt mir ‚New York Is Now!‘ am besten, und für lange Zeit war diese Musik zusammen mit dem Foto das, was ich von meinem Vater kannte.“


Da die meisten von Ornette Colemans Werken ohne Harmonie-Instrumente aufgenommen wurden, glaubte der Pianist Vijay Iyer zunächst, dass es nicht gelingen würde, Ornettes Musik auf dem Klavier zu spielen: „Bis ich Geri Allens Version von ‚Lonely Woman‘ hörte, die sie vor gut 20 Jahren aufnahm; ihre Version hat viel von den bezaubernden Geheimnissen in Ornettes Musik bewahrt. Das Original habe ich selbst erst danach kennengelernt, ich war dann sehr überrascht von der großen Kraft dieser Musik. Diese Direktheit hatte ich nicht erwartet. Ich schätze Ornette für seine strukturellen Innovationen, und in dem Film ‚Made in America‘ sagt er an einer Stelle, dass seine Mutter ihm ein Spielzeugsaxofon geschenkt und er darauf Musik imitiert hätte. Das fand ich einen schönen Gedanken. Seine Innovationen resultierten aus der Imitation von Oberflächenqualitäten, wie man sie aus dem Bebop kennt. Coleman ersetzte die innere Struktur durch etwas Neues. Auf den ersten Blick mochte sich das wie Bebop anhören, doch Musiker hörten sofort, dass in seinem Ansatz ganz neue Möglichkeiten des Ausdrucks lagen. Seine Ensemblestrukturen vermitteln die Illusion von Ordnung und innerer Einheit. Davon habe ich viel in meine Spielweise übertragen. Ich komponiere nur so viel, wie nötig ist, um den musikalischen Gruppenprozess in Gang zu setzen, und ohne zu diktieren, was zwischen den Episoden zu passieren hat. Und doch gibt es einen Leitgedanken, der mit dem Anfang der Komposition korrespondiert.

Ich finde zudem, dass die Beziehung zwischen Punk-Rock und Ornettes Musik noch sehr unterschätzt ist. Dieses Do-it-yourself-Gefühl auf allen Ebenen, das jene ungeheure Kraft initiiert, hat etwas Unmögliches, und doch passt es genau zu diesen Klängen. Den Album-Titel ‚Free Jazz‘ habe ich immer als bedeutungsvollen Witz begriffen, schließlich gibt es Tempo, Ensemblespiel, Ordnung, Absicht, Systematik, und die Klangwelt dieser Platte hat nichts mit dem zu tun, was man heute unter Free Jazz versteht.

Es gibt ein Foto von Rudresh Mahanthappa, Ornette und mir bei einem Empfang, er nahm uns da zur Seite und erzählte uns, dass man nur drei Akkorde benötige. Einmal traf ich Ornette in der U-Bahn. Ich wollte gerade einsteigen, da sah ich ihn aussteigen, drehte mich um und fragte: „Ornette Coleman?“, er sagte „Ja“ und mir fiel nichts anderes ein als „Danke für die Musik!“, die Tür wurde geschlossen und die Bahn fuhr los. Ich dachte dann noch, dass ich Ornette nicht in der U-Bahn erwartet hätte, er sollte in Limousinen fahren und in Hubschraubern durch New York fliegen.“


Bei verschiedenen Festivals in jüngster Zeit nutzte der Trompeter Terence Blanchard die Gelegenheit, sich Ornette Colemans Konzerte anzuhören: „Ich sehe ihn so gar nicht als Free-Jazz-Musiker. Ich höre wunderschöne Melodien und Akkordfolgen, die zwar nicht im traditionellen Sinn gespielt werden, aber dennoch da sind. Seine Musik ist so ausdrucksstark: Wenn man ein Konzert von ihm besucht, begibt man sich auf eine Reise. Man wird Teil einer ganz anderen Welt. Und wenn man Miles-Davis-Fan ist, muss man auch ein Don-Cherry-Fan sein, denn beide haben mit einer unglaublichen Freiheit gespielt, einem Ausdruck, der einzigartig in ihrer Zeit war. Mut und Furchtlosigkeit sind die Begriffe, die ich mit diesen Musikern verbinde. Wenn man Ornette heute sieht, ist es eine Feier dieser Qualitäten.“


Die bis heute einzigartigen Ideen des Komponisten Ornette Coleman haben den Bassisten Dave Holland besonders beeindruckt: „Bei Ornette hat jeder Song eine starke Botschaft. Er kam aus einer Zeit, in der die Musiker von immer komplexeren Akkordfortschreitungen fasziniert waren. Ornette hatte darauf eine völlig neue Antwort, er konnte diese Changes spielen, aber er musste es nicht. Wie die alten Bluesmusiker spielte auch er nicht immer die 12-Takte-Form, manchmal eben nur 5 1/2 Takte und dann 6 Takte einen anderen Akkord. Er brachte diese alte Idee in einen neuen musikalischen Kontext ein, das befreite die Musiker von der Form. Als ich 18 war, hörte ich Ornette und fühlte mich frei. Das war eine Erleuchtung.“


Auch der Altsaxofonist David Sanborn verortet Coleman im Blues: „Der Schlagzeuger Phillip Wilson machte mich damals in St. Louis mit Lester Bowie und Julius Hemphill bekannt. Wir waren jung und offen für alle möglichen Musikarten. Wir hörten Motown, Jazz, Pop und Klassik. Ich erinnere mich, dass Lester gelegentlich mit einer Zirkuskapelle auftrat, wir spielten experimentell und straight ahead, es ging uns wirklich nicht um Kategorien. In St. Louis wuchs man zu meiner Zeit mit Blues auf, was ich als die erdige Seite des Jazz bezeichnen würde. Deshalb hatten wir da unten auch kein Problem, Ornette Colemans musikalische Sprache zu verstehen. Ornette kommt aus Fort Worth, Texas, und als ich ihn zum ersten Mal hörte, dachte ich: Das ist ein Bluesmusiker, der Altsaxofon spielt. Das klang für mich wie Country Music.“


Ornettes Musik sei für ihn nicht wichtig gewesen, sagt der Pianist Hank Jones: „Ich hatte auch von Ornettes Auftritten im Five Spot gehört, aber ich bin dort nie gewesen. Ich denke, dass diese Musik ein Eigenleben entwickelt hat, es gibt bestimmt ein Publikum und andere Musiker, die sich dafür interessieren. Doch Lester Young, Coleman Hawkins, Ben Webster und Charlie Parker gehörten nicht dazu.“


Als Ornette Coleman 1959 sein New Yorker Debüt im Five Spot feierte, trat auch der Posaunist Curtis Fuller mit dem Quintett von Benny Golson dort auf: „Eigentlich sollte Thelonious Monk auftreten, doch er hatte zu der Zeit keine Cabaret Card. So wurden aus unserem für zwei Monate gedachten Engagement zwei Jahre im Five Spot. Zeitweise arbeiteten wir zusätzlich noch im Birdland. Im Five Spot waren wir die Haupt-Band, als auch Ornette mit seinem Quartett dort auftrat. Ornette war damals nicht so neu, wie es heute scheint. Mit Yusef Lateef haben wir schon vier, fünf Jahre vor Ornette sehr experimentelle Musik gespielt, mit chinesischen Gongs, Oboe und Flöte und indischen Instrumenten, die Yusef von Ravi Shankar erhalten hatte. Ich stimme bis heute mit vielem nicht überein. Etwa, dass man sich eine Geige schnappen kann und nach einem Monat ein Genie auf diesem Instrument sein soll. Das ist Unsinn. Doch Leonard Feather schrieb so was über Ornette.“


Der Komponist und Musiker Philip Glass nahm sich schon früh an Ornette Coleman ein Beispiel: „Ich führe seit über 40 Jahren meine Kompositionen vor Publikum auf und gebe immer noch 50 bis 60 Konzerte pro Jahr. Ich habe also diese Spielsituation immer vor Augen. Als junger Mann fühlte ich mich sehr inspiriert von Jazzmusikern wie John Coltrane und Ornette Coleman, weil beide immer ihre eigenen Kompositionen gespielt haben. Mit John Cage und Ravi Shankar haben sie gemeinsam, dass sie Künstler waren, die ihr Werk auch selbst aufführen wollten. Mein musikalisches Leben habe ich nach diesem Modell ausgerichtet. Das Konzert wird zu einer Art Vervollkommnung der Komposition und so zum Schlusspunkt des schöpferischen Prozesses. Der kreative Prozess beginnt mit einer kleinen Idee und wird mit einer Aufführung des jeweiligen Werks beendet. Es gibt natürlich Ausnahmen, dazu gehören Komponisten, die ihre Stücke nicht selbst aufführen und deren Verhältnis zum Publikum zwangsläufig abstrakter sein wird.“


Für den ECM-Produzenten Manfred Eicher ist Ornette nie ein freier anarchischer Musiker gewesen, „sondern wie Paul Bley auf dem Klavier ein Lyriker, ein Poet, der freie Musik gespielt hat, aber freie Musik poetisch gestaltet hat. Ornette habe ich immer als unglaublichen Melodiker geschätzt, besonders sein Quartett mit Don Cherry, Charlie Haden, Ed Blackwell oder Billy Higgins. Mit der ganzen Gruppe habe ich ja aufgenommen, außer mit Ornette. Aber wir haben uns mehrmals getroffen, noch in der Prince Street, und hatten auch mal vor, zusammen zu arbeiten. Dann hatte er wieder andere Ideen, und nach einer Pause erreichte mich Jahre später seine überschwängliche Reaktion auf Arvo Pärts ‚Tabula Rasa‘ (1985). Dann hat er mir Sängerinnen vorgeschlagen, aber weiter kam es wieder nicht. ‚The Empty Foxhole‘ ist einer seiner vielen klugen, weitreichenden, richtungsweisenden Titel, die mich von Anfang an faszinierten, ich habe eine sehr enge Beziehung zu der lyrischen Seite seiner Musik.“


Ornette und die New Yorker Avantgarde der Sechzigerjahre seien immer stark unterschätzt worden, sagt der Bassist Barre Phillips: „Der Trompeter Don Ellis hatte damals einen Workshop, der einmal pro Woche in seinem großen Loft stattfand und für jeden offen war. Auch John Coltrane schaute vorbei, die Leute kamen, um mitzuspielen oder einfach um zuzuhören. Es war so experimentell, dass selbst Sonny Rollins und Miles Davis wissen wollten, was da läuft. Jimmy Giuffre traf sich damals oft mit Ornette, und mehr als ein Jahr lang lernte Giuffre daraufhin intensiv Klarinette spielen und komponierte neue Musik. Dieses kreative Klima war hoch interessant. New York war sehr preiswert damals, man konnte auch als armer Avantgardist dort leben, und man hatte Zeit, heute geht das nicht mehr. Aufgrund der sozialen Bedingungen hatten wir tatsächlich sehr viel Zeit für kreative Sachen.“


Der Saxofonist Evan Parker berichtet von seinem ersten Ornette-Schock: „Mein erster Eindruck von seiner Musik war, dass ich nicht verstand, was er tat. Er kam auch etwas zu früh für mich. Ich war Mitte der Sechzigerjahre ja noch ein Student, der versuchte, klassischen modernen Jazz zu spielen, den modalen Coltrane. Coltrane und Dolphy – erst als dann die ersten ESP-Platten herauskamen, wurden wir hellhörig. Selbstbestimmung und Selbstorganisation wurden danach wichtige Themen für uns. Doch eine Komponistengilde, wie Carla Bley und Bill Dixon sie in New York initiierten, erschien uns zu utopisch.“


Für den Saxofonisten David Murray ist Coleman ganz eindeutig ein Erneuerer innerhalb der Jazztradition: „Ich bin zum Jazzmusiker ausgebildet worden, das ist es. Doch deshalb bin ich nicht festgelegt, sondern spiele in möglichst vielen verschiedenen musikalischen Kontexten – je mehr, desto besser. Sam Rivers und Ornette Coleman haben für mich die Rolle des schöpferischen Musikers definiert.“


Als der Dirigent Butch Morris 1976 nach New York zog, traf er Ornette Coleman und holte sich bei ihm Rat: „Vor ein paar Jahren rief ich ihn an, um zu sagen, dass ich es nicht ertragen könne, dass wir in der gleichen Stadt und Zeit leben, aber nie einen gemeinsamen privaten Augenblick haben. Er sagte, ich solle doch einfach bei ihm vorbeikommen – und dann redeten wir den ganzen Tag. Er hat mir sehr geholfen. Was man nämlich am meisten braucht, um den nächsten Schritt zu tun, ist Ermutigung. Wenn man etwas so Abstraktes macht wie ich, kann man schon mal die Nerven verlieren, besonders wenn man unvorsichtig wird und keine Unterstützung hat. Von Ornette habe ich gelernt, mir die Dinge selbst zu erklären. Das musikwissenschaftliche Vokabular reichte mir nicht mehr, um zu beschreiben, was ich tue. Jazz würde nicht existieren, wenn es nicht um Spontaneität, Entflammung und Verbrennung ginge. Ohne das gäbe es keinen Swing. Conduction ist die Umwandlung von Hitze, ich erwarte vom Ensemble nicht, dass es swingt, aber dass es brennt. Bevor ich es so erklären konnte, habe ich Physikbücher gelesen.“


Von einem historischen Ereignis sprach der Saxofonist Anthony Braxton, als Ornette Coleman 2007 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde: „Ich freue mich für Ornette Coleman und auch für Sonny Rollins und Steve Reich, die im selben Jahr den Polar Prize erhalten haben. Jede Würdigung der unschätzbaren Arbeit meiner Idole macht mich glücklich. Mr. Coleman hat gekämpft und eine Musik geschaffen, die vor ihr nicht existierte. Schönberg und Coleman haben einen festen Platz in meinem Herzen.“


Die Preisverleihung an Coleman verband der Posaunist George Lewis mit gezielten Hoffnungen: „Es kommt besonders darauf an, wie die Jazzszene auf so eine Auszeichnung reagiert. Denn davon wird abhängen, wie viele Anträge und Vorschläge das Komitee künftig aus dem Jazz und der Improvisierten Musik erhalten wird. Es wäre schön, wenn der Pulitzer-Preis für Ornette auch andere Musiker dazu ermutigen würde, sich für so eine Auszeichnung stark zu machen. Man kann sich sogar selbst darum bewerben, und die Jury nimmt das durchaus wohlwollend zur Kenntnis. Ich glaube, dass die Musiker bereit sind, sich aber von den Jazzmedien davon abhalten lassen.“


Von engen Verbindungen zwischen Colemans Musik und den gesellschaftlichen Bedingungen spricht der Altsaxofonist Henry Threadgill: „Ich habe ihn schon als junger Mann gehört und Anfang der Siebzigerjahre bei einem Konzert mit Wadada Leo Smith in der Peace Church in New York getroffen. Ich liebe seine Musik und seinen Erfindungsreichtum. Als wir Ornettes Platte ‚The Shape Of Jazz To Come‘ hörten, spürten wir sofort, dass gerade eine Ära zu Ende gegangen war. Wir hatten bis dahin versucht, Post-Bebop-Musik zu spielen, Art Blakey’s Jazz Messengers und solche Sachen. Doch als wir Ornette hörten, legten wir erleichtert unsere Instrumente zur Seite und wussten, dass etwas ganz Großes geschehen war. ‚Lonely Woman‘ machte alles ganz klar: Musik hat mit dem Leben zu tun. Krieg, politische Spannungen, alles geht in die Musik ein, und Ornette drückte dieses Gefühl aus. Alles änderte sich 1958 in den USA. Und wir wussten, es musste etwas kommen, das die großen Veränderungen auch künstlerisch zum Ausdruck bringt. Coltranes Ausstieg bei Miles, Cecil Taylor und Ornette Coleman waren deutliche Signale. Die Sechzigerjahre haben mich geprägt und verändert. Der Vietnam-Krieg, Frauen, die während einer Demonstration ihre BHs ausziehen, die Stadtguerilla. So viele Informationen, die dein Leben beeinflussen, die Ideologie, Black Panther und eben diese Musik: Ich zehre bis heute davon.“

Text
Christian Broecking, Guenter Hottmann, Götz Bühler
Foto
Arne Reimer, Nomo michael hoefner / www.zwo5.de (Own work) [CC-BY-3], via Wikimedia Commons

Veröffentlicht am unter 110, Feature, Heft

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