Was wäre wenn …?

Martin SchüllerWas-wäre-wenn-Fragen sind eigentlich verboten (habe ich im Geschichtsunterricht gelernt), aber manchmal ganz ergötzlich. Fragen wir uns also: Was wäre, wenn der Jazz nie die Philharmonie betreten hätte? Wenn er auf den Versuch verzichtet hätte, die weiße Mittelschicht von seiner Relevanz zu überzeugen? Den Versuch unterlassen, zu beweisen, dass er den Respekt des Bürgers verdient, ob seines Virtuosentums, seiner Komplexität, seiner theoretischen Unterfütterung?

Wäre diese Anbiederung an ein neues, zunächst noch etwas unwilliges, aber zahlungskräftiges Publikum unterblieben oder gar gescheitert, wo stünde er dann, der Jazz? Was hätte er stattdessen getan?

Nun, vielleicht hätte er gesagt: Fuck you, geh’n wir tanzen!

Wäre das so schlimm? Möglicherweise. Aber nicht sicher.

Ohne Zweifel hörte er sich dann heute sehr viel anders an. Vielleicht hätte er tatsächlich nicht überlebt, wäre frühzeitig degeneriert und eingegangen. Aber wäre es nicht ebenso denkbar, dass, hätte der Jazz nicht seinem jungen Publikum den Rücken gekehrt, der Rock‘n’Roll gar nicht nötig gewesen wäre, der Jazz seine Rolle als Musik der Rebellen einfach weitergespielt hätte? Wes Montgomery statt Chuck Berry? Natürlich wären auch die Erwartungen dieses Publikums zu erfüllen gewesen. Das Tempo wäre hoch geblieben, ebenso die Lautstärke. Es wäre getanzt worden.

Doch genau das wollte er ja nicht mehr, der Jazz, davor war er auf der Flucht. Tanzen beleidigt den Solisten. Ein großes, konzentriert lauschendes Publikum war gefragt, und das gibt es eben in der Philharmonie.

Die Vorstellung, die jugendliche Energie des Rock‘n’Roll wäre damals in den Jazz geflossen, umgekehrt die Musikalität des Jazz in die simplen Strukturen des Rock, ist heute tatsächlich befremdlich. Aber könnte der Verzicht auf das junge Publikum und die Verbürgerlichung in den Philharmonien nicht der Anfang vom, na ja, Ende in der heutigen Beliebigkeit gewesen sein?

Der Jazz wollte erwachsen werden, es ist ihm gelungen.

Was kommt noch mal nach Erwachsensein?

Veröffentlicht am unter Blog thing

Leipziger Jazztage 2024

3 Kommentare zu „Was wäre wenn …?“

  1. Besser irgendwann erwachsen werden als ewig infantil bleiben. Reif werden bedeutet nicht zwangsläufig langweilig, sondern erfahren und trotzdem neugierig bleiben.

    Vielleicht wollte er einfach nur die Hauptsache sein, der Jazz: Musik zum Zuhören, nicht zum Zusaufen, Rumhüpfen, nicht Gedudel nebenbei, sondern „Event“ an sich. Das hat er mit Klassik aber auch mit gutem Rock gemeinsam. Ich gehe nicht zum Tanzen ins Rockkonzert, sondern damit der E-Bass mich massiert und das Keyboard mir ins Hirn dringt; in den Jazzkeller damit das Schlagzeug tanzt und die Trompete im Gehörgang singt, in den Konzertsaal, damit…

    So „pervers“ wie Rock und Jazz in der Philharmonie ist, so Klassik im Open-Air (die drei Tenöre knödeln auf dem Königsplatz) oder in der Olympiahalle.

    Gute Musik, egal ob Jazz oder sonstwas, kann und sollte per se genossen werden. Schlechte Musik egal ob Jazz oder sonstwas taugt zum KlangTeppich: fürs Kaufhaus, zum Abschleppen an der Bar, zum Essen, …

    Übrigens „Anbiederung an ein zahlungskräftiges Publikum“? Hab ich da was verpasst bei Jazz? Ach so ich vergaß, ich bin bei den falschen Konzerten, ich höre Jazz in der Jazzkneipe nicht in der Philharmonie. Dazu noch eine böswillige Unterstellung: in der Philharmonie sitzen, egal welche Musik dargeboten wird, mindestens 50 Prozent, denen es völlig wurscht ist, was da vorne dudelt. Die wollen gepflegt Prosecco in der Pause trinken und am nächsten Tag im Büro angeben, wie toll es war. Aber erst nachdem sie die Kritik in der Zeitung gelesen haben – zur Sicherheit, um nichts falsches abzusondern.

  2. jazz als musik der jugend?

    ein schöner gedanke; ich glaube aber, dass der moderne jazz zu keiner zeit solches massenpotenzial hätte habe können: die strukturen sind einfach zu kompliziert für den ungeübten hörer. zwischen den ersten begegnungen mit musik (im westen vielleicht am ehesten radiomusik, in anderen teilen der welt vllt. eher folklore) und beispielsweise dem shorter quartet fehlt doch einfach ein verbindungsstück. es ist natürlich für jemanden, der ein istrument lernt, einfacher, diese entwicklung zu begreifen. aber es ist ja nicht so, dass man sofort mitmischen könnte. man braucht ja ein paar technische und theoretische grunglagen und musik aus büchern zu lernen ist sehr unjugendlich (auch gut so!!)

    ich habe auch mal darüber nachgedacht, dass die freiheit der improvisierten musik, alle regeln über bord zu werfen, eigentlich bei jungen menschen (wie blöd das klingt, aber ich darf sowas sagen mit meinen 20 jahren)auf stärkeres interesse stoßen müsste.
    nur leider wird diese freiheit gar nicht wahrgenommen: jazz wird, zurecht, schnell mit sektempfängen und möchtegernitellektuellen assoziiert, oder als schmusemusik á la norah jones.

    was solls…
    eine schöne kolumne jedenfalls.

  3. jeder nach seiner fasson. allerdings bin ich ziemlich sicher,
    dass der jazz sein z.T. staubiges image durch so meinungen, wie z.B. Oliver sie hier loslässt, bekommen hat.
    leute, die über gut und schlecht oder infantil und reif urteilen und über tanzen, trinken, abschleppen so reden wie der
    papst, gehen vielleicht wirklich gerne in den (jazz) keller.
    auf einen mate-tee. (nix gegen tee)