Es ist alles ganz anders

Pit HuberWir haben ihm so bitter Unrecht getan. Was wurde doch Böses über Wynton Marsalis geschrieben, welche Häme wurde über ihn ausgeschüttet! Ein Reaktionär sei er, ein verknöcherter Traditionswächter, ein verbohrter Purist, der nur seinen kleinen Kanon des Echten und Wahren gelten lasse. Mit 40 Jahren sei er bereits vergreist, war zu lesen, regrediere zum Archivar und Klassizisten, zum bornierten Jazzhüter. Seine eigene Musik sei künstlerisch überhaupt nichts mehr wert, schlimmer als Zirkusmusik, ein bloßer Marketing-Coup seiner Plattenfirma, Blendwerk für eitle Yuppies. Wynton Marsalis‘ Schaffen wurde von großen Teilen der Jazz-Meinungsmacher schmählich verachtet oder totgeschwiegen.

Ganz anders sein Bruder Branford! Als ältester Sohn der Familie musste er sich alles erkämpfen, entwickelte Eigensinn und Widerspruchsgeist und akzeptierte keine Grenzen. Branford koalierte mit HipHoppern, blies sein Saxofon für Sting und Bruce Hornsby, arbeitete mit dem frechen Filmemacher Spike Lee oder gründete seine eigene House-Funk-Jazzband. Branford Marsalis war unser Held, unser mutiger Avantgardist, der mit seinem Quartett bis an den Abgrund trat und furchtlos hinunterblickte. Wohlwollende Kritiken waren ihm sicher.

Ein großes, gewaltiges Missverständnis! In Wirklichkeit hat Branford nie eine Grenze angetastet. Er war der brave Mustersohn, der in die Fußstapfen seines Vaters trat. Auch der lavierte schon recht unschlüssig zwischen afroamerikanischer Avantgarde (Ed Blackwell) und mainstreamiger Anerkennung (Al Hirt) und hängte sein Fähnchen in den Wind. Branfords Al Hirt war die TV-Band der „Tonight Show“, die er jahrelang leitete. Wie wenig er letztlich über diesen bornierten Familienhorizont hinaussah, verriet seine Erregung über den Erfolg europäischer Jazzmusiker. Die Schimpftiraden gegen die „norwegische Folklore“ bewiesen: Branford ist der wahre Traditionswächter, ein verbohrter Purist, der nur seinen kleinen Kanon gelten lässt.

Ganz anders sein Bruder Wynton! Er erwies sich über die Jahre als der wahre Freigeist, der sich nie dem Populismus unterwarf, sondern das Unzeitgemäße durchsetzte. Wynton war es doch, der Ornette Colemans Musik erstmals für Big Band einrichtete, mit Jazzprojekten frech die Klassik-Hochburgen stürmte, Avantgardisten wie Cecil Taylor oder John Zorn auf die große Konzertbühne holte und auf seinen eigenen Platten die amerikanischen Verhältnisse anklagte. „Verknöcherter Traditionswächter“? Oh, wie gründlich haben wir uns in ihm getäuscht! Und jetzt wollen wir geradezu im Boden versinken: Wynton Marsalis hat ein Album mit Willie Nelson gemacht. Einem Weißen, einem Countrysänger, einem Cowboy! Bedarf es noch eines Beweises für Wyntons stilistischen Eigensinn und seine grenzenlose Offenheit? Von wegen: „nur ein Marketing-Coup seiner Plattenfirma“! Wir leisten Abbitte. Es ist alles ganz anders.

Pit Huber

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