Make-believe

Lili LamengGerade habe ich ein Wochenende auf Usedom verbracht. Eine Freundin weilt dort als Kurgast und hatte sich gewünscht, ich möge sie doch besuchen. Schönes Wetter, Ostseeluft, ich hatte wenig zu tun: Also fuhr ich hin. Öfter schon hatte ich mir ausgemalt, wie es wäre, den Sommer als Musikerin in Seebädern zu verbringen. In Konzertmuscheln spielen, den Sommer genießen, sich ein paar Wochen nicht um Gigs kümmern müssen. Den Tag am Strand verbringen, Romane verschlingen, Eis essen.

Just an diesem Wochenende fand an meinem Reiseziel zum elften Mal „Jazz auf dem Bahnhof Heringsdorf“ statt. Nachdem wir am Vorabend an der Kurpromenade schon Kostproben eines Plattdütsch singenden Duos und einer Coverband mit Abba-Schwerpunkt hatten erleben dürfen, war ich nun neugierig auf den Bahnhofsjazz.

Wir wohnten dem Abschluss der Konzertreihe bei. Eine „Internationale Jugend-Jazz-Band“ war angekündigt, zum Frühschoppen. Sommerwetter, Kurgäste um die 60. Das Jazz-Festival spielt laut dem Grußwort der Landrätin im Seebad Heringsdorf „eine bedeutende Rolle (…) als Ort des Austausches zwischen Künstlern und Bürgern sowie Gästen Ostvorpommerns“. Ich war gespannt. Schließlich will die Landrätin auch „diejenigen erreichen und einbeziehen, denen der Zugang zur Jazzmusik bislang verwehrt worden ist“. Eine Verbindung von innovativer Musik und Bahnhofsatmosphäre sollte eingegangen werden.

Wir waren pünktlich da. Die internationalen Musiker begaben sich auf die Bühne. Mit „In the Mood“ wurde der Frühschoppen eröffnet. Kleines Stottern in den Trompetenläufen, aber es war ja früh am Morgen, jedenfalls für Musiker, und die Gäste Ostvorpommerns hatten nichts Ungewöhnliches bemerkt. Die Musiker kamen aus Greifswald, Anklam und anderen bekannten Städten Mecklenburg-Vorpommerns. Die Saxophonriege war weiblich dominiert. Daher vielleicht der Hinweis des Bigbandleiters, das Saxophon sei gemeinsam mit der E-Gitarre bekanntlich das erotischste Instrument. Die Saxophonriege, in schwarze T-Shirts und Hosen gekleidet, blickte bei dieser Erläuterung verschämt zu Boden, der Gitarrist zeigte keine Reaktion. Nun kam gleich der innovative Teil. Eine junge Sängerin stellte einen selbst komponierten Song in deutscher Sprache vor und begleitete sich dabei selbst am Keyboard. Höflicher Applaus seitens der Kurgäste. Der kulturelle Austausch funktionierte.

Dann durfte die Sängerin gemeinsam mit der Band auftreten: „All of Me“. Da sie diesen Song nicht selbst geschrieben hatte, musste sie dabei verständlicherweise häufig auf die vor ihr platzierten Noten sehen.

Ein Zug traf ein. So muss es sein bei der Vermählung von innovativer Musik und Bahnhofsatmosphäre! „It’s Only a Paper Moon“ beim Eintreffen des Zuges! Hier konnte die Sängerin den Blick nur selten vom Text lösen. „The world is a temporary party place, it’s a Barnum and Bailey world“. Eine Anspielung auf den Bahnhof? Ein Hinweis auf den Getränkestand? Woraus besteht eigentlich Barnum?

„It’s Only a Paper Moon“ ist für mich untrennbar mit Tennessee Williams‘ „A Streetcar named Desire“ verknüpft. Blanche Dubois‘ Lied, das ihre zusammenbrechende Scheinwelt verkörpert, wunderschön und traurig. Könnten nicht junge Musiker darüber informiert werden, zu welchem Text die Musik, die sie spielen, gehört? Wenigstens im Groben? Allein „It wouldn’t be make-believe if you believed in me“ – ein ganzes Universum von Geschichten in einem Satz. Dass ein pubertierender Satzspieler andere Schwerpunkte als den Liedtext hat, kann ich verstehen, auch wenn es schade ist. Doch eine Sängerin? Eine Geschichte singen wollen und sie ablesen müssen?

Ich wollte nicht länger an dem kulturellen Austausch teilnehmen. In Seebädern werde ich auch nicht spielen, dafür bin ich zu traditionell eingestellt.

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Bezau Beatz