Das neue Live: Ein Unterfahrt-Besuch

[5.5.2020]

München (Stadtplan)

Es ist nicht mehr so einfach hineinzukommen. Sonst war da eine Schlange. Man stellte sich an, ein Willkommensgruß, Positionieren im Club, einen Platz suchen, wo man niemandem im Weg steht. Wenn die Musik spielt, das Fotografenballett. Auftauchen, abtauchen, vorbei an Beinen, Schuhen, Kurzzeitsympathien wecken, um sich eine Minute vor jemanden stellen zu können, der gerade eine gute Bildperspektive blockiert, konzentriertes, schnelles Arbeiten mit der Kamera, möglichst lautlos und am besten ein wenig so wie Jean-Baptiste Grenouille im „Parfüm“: vorhanden, aber unbemerkt. In den Pausen Socialising, Tratsch mitnehmen, Musiker bezirzen, vielleicht ein spontanes Garderoben-Shooting, zweites Set, noch fehlende Details einsammeln, eine Prise genusshören bei abgeschalteter Kamera, dann Handshake, toll war’s! Gute Reise, ich schicke dir was, bis zum nächsten Mal!

Nun also nichts von dem. Dafür erst einmal Termin vereinbaren, die Torwächterin erreichen. Es wird extra aufgesperrt am Hintereingang, vorbei am Stage-Büro der Münchner Unterfahrt, in den Club über den Schleichweg. Vor Ort der Programmchef Michael Stückl am Videopult, seitlich der Bühne, wo sonst die Connaisseure sitzen, die dem Drummer auf die Sticks schauen wollen. Ein Kameramann an der Säule zieht probeweise Schärfe, kontrolliert die Justage seiner Geräte, einmal Totale, einmal Zoom auf Stativen, zwei fest installierte Geräte für die Nahaufnahmen des Instruments, der Hände. Niemand hinter der Bar, alles dunkel, nur Robert Huber am Tonpult dreht an den Reglern, die Mähne nicht nur unter dem Kopfhörer, sondern auch Mund-Nasenbereich hinter einer Maske verborgen. Ganz im Eck Anna-Marie Schluifelder, Bürochefin des Jazzclubs und zuständig unter anderem für den Live-Chat – nervös, weil sie die Ansage machen muss, wenn es gleich losgeht im Netz.

Michael Stückl & Anna-Marie Schluifelder

Viel Raum, viele Herzchen
An der Seite der Bühne der Pianist Chris Gall. Er hat viel Platz, um auf und ab zu gehen, sich zu sammeln, schließlich ist er in wenigen Minuten live „auf Sendung“, hätte man früher gesagt. Die Nervosität vor Ort nimmt zu, „eine Minute dreißig!“ – Ansage, die Welt wird begrüßt, der Künstler ist am Flügel bereit, der Stream beginnt. Gall greift in die Tasten, Schluifelder eilt zum Laptop, die ersten Herzen und Grinse-Icons fliegen über den Bildschirm. Anfangsapplaus in Zeiten des Shutdowns und der digitalen Transformation von Clubgefühl im Netz. Während der kommenden knapp 90 Minuten werden noch ein paar organisatorische Kleinigkeiten passieren, außerdem wunderbare Musik, lange Ansagen, die irgendwie privat, dann wieder förmlich wirken, im virtuellen Wohnzimmer des Künstlers und seiner Fans. Einmal stürzt das System ab, ist aber nach zwei Minuten wieder online, vielleicht haben zu viele gleichzeitig an der Kunst gesaugt. Alltag des Streamings, kein echtes Problem.

Dann die Schlussherzchen, eine Handvoll Anwesende übernimmt den tosenden Applaus am Set. Ein Pianist, der alles gegeben hat, schließlich waren Freunde von Sendling bei Brasilien zugeschaltet. Und zwischenzeitlich mehr als 400 Zu-Streamer, vielleicht dreimal so viel, wie üblicherweise in den Raum passen. Das Fotografieren seinerseits macht Spaß, die Bedingungen sind ausgezeichnet, in manchem sogar besser als sonst. Endlich stabiles Licht, theaterhell, die Kameras sollen ja schöne Bilder liefern. Keine Besucher, deren Sichtfeld man behindert, im schlimmsten Fall die Brennweiten der Stream-Objektive, in die man hineingeistert. An sich grandiose Bedingungen, wie im Labor, im Studio. Es entstehen ordentliche und schicke Bilder, auch ein paar Kuriosa, Anwesende mit Masken etwa, die aussehen, als hätten sie Babywindeln verschluckt. Was man so kennt, auch aus Supermärkten.

Chris Gall

Gefühl und Perspektive
Doch vieles ist anders. Die Dramaturgie des Konzerts ist portioniert, songorientiert, die Bögen sind kürzer. Der Künstler ist sich selbst überlassen, trotz Datenleitung in die Welt, und moderiert mehr als sonst, weil das Nonverbale der direkten Kommunikation mit dem Publikum fehlt. So nett wir paar Hänschen im Raum sind, ist es kein Vergleich zu den Vibrations leibhaftig lauschender Fans. Fliegende Herzchen sind am Bildschirm entzückend, die Kommentare im Chat und auch im Anschluss daran aufmunternd, erhellend, manchmal durchaus unerwartet, mit anregenden Anmerkungen. Ein brandender Beifall ist trotzdem betörender, ebenso die knisternde Stimmung, vielleicht auch der Barmann, der an der zufällig richtigen Stelle mit Klirren, Klingeln, Eisgewürfel für ein Schmunzeln sorgt. Es fehlen die Küchendüfte, die durch die Seitenklappe wehen, die Huster und Schnupfer, sogar ein unbedachtes Handyklingeln wäre gar nicht so schlimm. Das ganze Leben eben.

Streaming ist anders. Es ist famos, eine Chance für Verbreitung und Kontakt über den lokalen Moment hinaus. Die Technik muss stimmen, Sound und Bild, und sie wird, sobald sich mehr ästhetische und organisatorische Routine einstellt, auch Kreativität provozieren, ungewohnten Schnitt, Kombinationen mit anderen Bildern, Soundelementen, Erzählmustern. Da ist Luft nach oben, weil in der Szene noch nicht viel Erfahrung und kaum Anspruch vorhanden ist, was man von dem neuen Medium eigentlich will. Streaming wird sich weiterentwickeln, weg von der Anknüpfung an Fernsehformate, die Richtung ist spekulativ. Animationen vielleicht, Kombinationen von Künsten, Streamcasts, Sound/Filter/Bildexperimente, Montagen und Verfremdungen, Kurz- und Langformate, Spenden und Abo, Crowdfunding und Patreon, Leuchttürme und Kooperationen, Streaming-Plattformen, wer weiß. Niemand hat in dieser beschleunigten Form damit gerechnet, doch es wird kommen.

Die Einsamkeit der Kippenecke
Bislang aber sind virtuelle Clubs noch ins Virtuelle übersetzte, echte Clubs. Und ein paar lieb gewordene Gewohnheiten gehören weiterhin zum Ablauf, zum Wohlgefühl von Künstlern und Beteiligten. Nach dem Konzert der Plausch mit dem Musiker, auf Abstand, aber in entspannter Haltung. Das könnte man auch filmen, wird bestimmt auch bald passieren. Bislang ist es noch ein Freiraum der nichtdokumentierten Äußerung, des Sich-Gehen-Lassens nach getaner Arbeit.

Ganz am Ende wieder die Torwärterin mit dem Schlüsselbund, der Hinterausgang, eine Schwingtür auf den Hof, die Einsamkeit des Fotografen ohne die Kommentatoren an der Kippenecke. Die Zukunft hat begonnen.

Text
Ralf Dombrowski
Foto
openstreetmap.org (CC BY-SA) // Fotos Unterfahrt: Ralf Dombrowski

Veröffentlicht am unter viral/postviral

jazzfuel