RIP: Jon Hendricks

Jon HendricksJon HendricksEs ist nicht so, dass es im Vocal Jazz das Stilmittel „Vocalese“ zuvor nicht gegeben hätte: Eddie Jefferson und King Pleasure werden zumeist als die Pioniere genannt, die instrumentalen Jazzstandards Texte mitgegeben haben. Doch erst Jon Hendricks sollte „Vocalese“ zur Kunst erheben, als er mit dem Vokal-Trio Lambert, Hendricks & Ross 1957 das Album „Sing A Song Of Basie“ aufnahm. „Meine Idee war, mit meinem Text eine Geschichte zu erzählen, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat“, erzählte Hendricks unserem Autor und Fotografen Arne Reimer, als dieser ihn in New York in seiner Wohnung besucht hatte, um ihn für den zweiten Teil unseres Buch-Duos und der Artikel-Reihe „American Jazz Heroes“ zu interviewen. „Es sollte eine Handlung und Personen geben, die Kommentare zur Handlung abgaben. Es fiel mir leicht, Texte zu den Stücken zu schreiben, denn ich hatte schon früh eine Affinität zu Worten und Wortkombinationen. Die Ideen dazu fand man alle draußen auf der Straße, man musste nur genau hinhören.“ Dem nicht genug: Hendricks schrieb nicht nur Texte für die Jazzstücke, sondern übertrug die Bläserarrangements der Count Basie Bigband auf die drei Stimmen des Vokal-Trios, denen er dann eben auch seine Geschichten mitgab. Das sollte seine „Lebensleistung“ sein, die ihn über den Jazzzirkel hinaus weltweit bekannt und berühmt machte.

Wer auf das Titelfoto des zweiten Teils von Reimers „American Jazz Heroes“ schaut, der wird von Hendricks gleichsam visuell umarmt, obwohl (oder gerade weil?) der Sänger nicht direkt in die Kamera schaut, sondern rechts daran vorbei. Man betrachtet einen Mann, dem man sein Alter zwar ansieht; immerhin war Hendricks beim Treffen mit Reimer bereits 94 Jahre alt. Man erkennt und spürt die Reife und Lebenserfahrung dieses Menschen, der 1921 als John Carl Hendricks in Newark, Ohio, geboren wurde und mit 16 Geschwistern aufwuchs; der über den Pianisten Art Tatum, in dessen Nachbarschaft er eine Weile lebte, den Jazz für sich entdeckte; der als Soldat am Ende des zweiten Weltkriegs wegen rassistischer Vorfälle desertierte und inhaftiert wurde; der nach einem kurzen Treffen mit dem Bebop-Saxofonisten Charlie Parker nach New York zog, wo er seinen ursprünglichen Plan, Jura zu studieren, über den Haufen warf und Jazzsänger wurde; und der 1957 das Korsett des improvisierenden Scat-Gesangs abstreifte und mit „Vocalese“ eine echte Kunstform erschuf.

Man erkennt aber auf dem Foto auch Hendricks Humor, man sieht eine jugendliche Frische im Gesicht des Mannes, der sich sein einnehmendes Wesen bis ins hohe Alter bewahren konnte. Der Erfolg, den Hendricks mit seiner „Vocalese“ zeitlebens haben sollte, hat ihn nicht arrogant werden lassen. Ganz im Gegenteil: Gleichgültig, ob als Entertainer auf der Bühne, als Sänger im Studio oder als Privatmensch zu Hause in New York, er blieb stets sympathisch und vor allem seinen Mitmenschen zugewandt, offenherzig und neugierig. Das von ihm mitgegründete Trio Lambert, Hendricks & Ross wurde in den vergangenen gut 50 Jahren mit seiner Vocalese zum Vorbild für zahlreiche A-cappella-Gesangsgruppen, allen voran natürlich Manhattan Transfer. John Carl „Jon“ Hendricks ist am 22. November im Alter von 96 Jahren in New York gestorben.

Text
Martin Laurentius
Foto
Arne Reimer

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