Heinrich von Kalnein

Jazz für 2,99 Euro

Im Koma? Quicklebendig? Konserviert oder reanimiert? Der Diskurs über den Status Quo der Marke Jazz hat 2012 in Deutschland eine ungeahnte Dynamik erhalten. Schön, findet Heinrich von Kalnein, aber für ihn nicht wirklich neu. Schon seit 20 Jahren denkt der in Österreich lebende Saxofonist darüber nach, wie man dem in die Jahre gekommenen Patienten wieder auf die Beine helfen kann. Nun probiert er’s mit einem iPhone. Hört sich arg schräg an, klingt aber ziemlich gut.

Heinrich von KalneinSchöner deutscher Name. Ein bisschen aus der Mode gekommen zwar, weshalb die Leute eher auf Kurzformen wie Hein, Heini, Heiner oder Hinner zurückgreifen, aber gerade deshalb etwas Besonderes. Mit Künstler-Pseudonymen kommt man im Jazz sowieso nicht allzu weit. Und gerade in Österreich macht so ein bisserl aristokratischer Schmäh selbst heute noch was her, vor allem wenn es sich um einen waschechten „Von“ handelt. „Servus“, grüßt deshalb auch in breitestem Austrianisch besagter Saxofonist, und auf Anhieb fällt es einem auf, wie sich die Farbe der Sprache doch im Laufe der Jahre unweigerlich an ihre Umgebung anpasst. Heinrich von Kalnein, in Baden-Baden geboren, lebt seit über einem Vierteljahrhundert im Nachbarland und fühlt sich dort auch pudelwohl. Altes ostpreußisches Adelgeschlecht findet künstlerisches Asyl bei den Habsburgern. Sozusagen. Darüber kann der 51-Jährige herzlich lachen.

„Die typisch deutschen Tugenden haben sich bei mir sowieso erst hier entwickelt. Früher war ich aus Gewohnheit immer zu spät. Ein Rest von jugendlicher Renitenz vielleicht. Es brauchte schon einen ganz schlimmen professioneller Dämpfer, um zu kapieren, dass das auch eine Missachtung anderer Leute sein kann. Als ich eines Tages ohne Not zur Probe mit einem Popsänger eine Stunde zu spät kam und keiner mehr da war, wusste ich, dass sich nun etwas ändern musste. Seither stehe ich auf Pünktlichkeit.“

Keineswegs der einzige Grund, warum Heinrich von Kalnein einen hervorragenden Ruf in Österreich genießt. Als Hochschullehrer trägt der musikalische Botschafter ein gerüttelt Maß an Verantwortung für die Ausbildung des Jazznachwuchses zwischen Donau und Alpen, zu Beginn an der Linzer Anton Bruckner-Privatuniversität und seit geraumer Zeit an der Grazer Kunstuniversität. Im achten Jahr leitet er nun schon zusammen mit Horst Michael Schaffer die renommierte, weil überaus experimentierfreudige jazz bigband graz und kommt mit eigenen Ensembles sowie als Gastsolist ziemlich in Europa und dem Rest der Welt rum. Auch sein Geburtsland, dessen Pass er nach wie vor in der Tasche trägt, steht regelmäßig auf dem Kalender des manischen Arbeitstieres, wenn auch die kollektive Wertschätzung dort lange Zeit etwas hinter den eigenen Erwartungen zurückblieb. Erst Kahiba, Kalneins Trio mit dem Akkordeonisten Christian Bakanic und dem Drummer Gregor Hilbe, das durch einen besonderen Soundmix aus kammermusikalischer Leichtigkeit und elektronischen Spielereien seit 2008 auf sich aufmerksam macht, öffnete ihm die Tür zu einem größeren, mithin auch jüngeren Publikum. „Wir sind ein absolut eingespieltes Team, das über Vertrauen, Neugierde und blindem Verständnis funktioniert. Eine gute Band, mit der man dem Ideal von musikalischer Freiheit schon ziemlich nahe kommen kann“, konstatiert Kalnein zufrieden.

Wie so ein Heiliger Gral aussehen kann, das demonstriert „Orbital Spaces“ (Natango Music/Galileo-mc), die zweite CD von Kahiba nach „Global Dialects“. Gerade in Zeiten, in denen der Komposition ein immer größerer Stellenwert zuteil wird, präsentieren er, Bakanic und Hilbe ein komplett frei improvisiertes Album. Dennoch klingt alles verblüffenderweise kaum klassisch „free“, sondern wie aus einem Guss, was wohl auch an einem Masterplan liegt, den der österreichische Deutsche seit den 1990ern ausbrütet.

„Ich wollte schon damals den Untiefen der Jazzklischees entkommen, diesem ermüdenden Thema-Solo-Thema-Schema, und beschäftigte mich viel mit freieren Kompositionsformen, etwa von Kenny Wheeler.“

Irgendwann stieß der Saxofonist dann auf den revolutionären Geist von Miles Davis, dessen bahnbrechendes Album „In A Silent Way“ und den Wiener Elektroniker Karlheinz Essl, der in einer Rundfunksendung von einer generativen, das heißt zufallsorientierten Kompositionssoftware für das iPhone berichtete. Das von Brian Eno und Peter Chilvers entwickelte Programm elektrisierte Kalnein.

„Genau so etwas hatte ich gesucht. Etwas völlig Offenes, das weit über diese Ambient-Wohlfühl-Tapete hinausgeht. Wenn du nichts tust, ändert es irgendwann die Tonalitäten. Über das Touch-Display kann man Töne in zyklischen Abständen abrufen oder durch ein einfaches Schütteln löschen. Für einen Jazzmusiker ist das der Himmel. Du steckst dein Telefon an und machst für 2,99 Euro Musik. Das kann wirklich jeder!“

Vieles davon weckte auch Erinnerungen an die modal orientierte indische Musik, mit der er sich im Zuge des Indo-Jazz-Fusion Projekts „Free Winds“ mit Ex-Guru Guru Roland Schäffer und Jatinder Thakur beschäftigt hatte. Dabei dachte von Kalnein vor allem an die Shruti-Box, die er 1996 auf einer Indien-Tournee kennenlernte und die wie ihre manuell betriebenen Vorläufer elektronische Orgelpunkte und „Drones“ generiert.

Wunderbar! Herrlich! Ganz weit weg vom überkommenen Jazzverständnis. Dazu passt auch die jungfräuliche Kollaboration des Saxofonisten mit dem österreichischen Rapper Jimmy Reisinger aka Jimpancee, die unter der Headline „HvK & the Hip Hop Tribe: Do is mei Stimm“ für Furore in der Clubszene sorgt. „Der Jazz als Stil ist seit gut 20 Jahren abgeschlossen“, gießt Kalnein Benzin ins hell lodernde Debattenfeuer, das augenblicklich in good ol’ Germany tobt.

„Bestimmte Schlüsselelemente davon finde ich nach wie vor sexy: den individuellen Klang und die Idee der Improvisation, der Freiheit, die ich in einer latent faschistoiden Zeit wie dieser für wichtiger denn je halte. Wir vergessen gerne, dass sich der Jazz in seinen Hoch-Zeiten stets mit den jeweils aktuellen Rhythmen beschäftigte. Orientieren wir uns wieder mehr in diese Richtung, anstatt sich wie viele Jazzmusiker auf das sattsam bekannte Instrumentarium zurückzuziehen, dann habe ich Hoffnung.“

Musik sei eine Reise nach innen, doziert Heinrich von Kalnein auch ohne Studenten. „Die ewige Balance zwischen Body and Soul, zwischen Sexual-Shakra und Gehirn. Du musst das alles nur irgendwie freischaufeln.“ Klingt gewaltig, muss aber, wie gesagt, nicht allzu viel kosten.

Text
Reinhard Köchl

Veröffentlicht am unter 93, Feature, Heft

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