Defne Şahin

Gesehen und gehört werden

Die Frau war die Nummer 40 – auch das muss in einem Heft wie diesem, in dem die „Jazz thing Next Generation“ ihr großes Jubiläum feiert, einfach erwähnt werden, vor allem, wenn sie selbst zeitgleich mit einem neuen Werk aufwartet.

Defne Şahin (Foto: Harun Güler)

Ihr 2011 erschienenes Debütalbum „Yaşamak“ bestach bereits durch die unmittelbaren Bezüge zur Literatur, im damaligen Fall zu der des türkischen Literaten Nâzim Hikmet (1902–1963), der einen großen Teil seines Lebens im Gefängnis verbracht hat. Nun, zwölf Jahre später, in denen die Welt nicht unbedingt eine bessere geworden ist, erinnert sich Defne Şahin an die US-amerikanische Dichterin Emily Dickinson, eine ihrer prägenden Inspirationen. „Hope Is The Thing With Feathers“, einen Vers Dickinsons, hatte die Berliner Vokalistin türkischer Herkunft mit Stationen in New York, der deutschen Hauptstadt und Istanbul, bereits im ersten Jahr an der Jazzschule zu einem Song mit türkischem R-‘n'-B-Einschlag aufgepeppt.

„Vor drei Jahren, mitten in der Pandemie, begann ich mich dann wieder mit Emily Dickinson zu beschäftigen, da ich die Einsamkeit, in der sie schrieb, nun nachempfinden konnte. „Hope‘ war das erste Gedicht, zu dem ich neue Musik komponiert habe.“

Weitere sollten folgen, bis das ganze Album „Hope“ (Berthold/Cargo) fertig war. Zwei Jahre hatte Defne Şahin auf ihrer Suche nach einem frischen, persönlichen Sound gearbeitet, zuerst allein, dann mit ihrer Berliner Band um Johannes von Ballestrem (Piano), Keisuke Matsuno (Gitarre), Simon Jermyn (E-Bass) und Martin Krümmling (Drums). Dabei modellierten die fünf sowie Defnes Schwester Dilvin zehn Stücke, in denen die Texte und Melodien die Kompositionen formen und sich in einem genreübergreifenden musikalischen Kontext aus Jazz, Pop und türkischer Musik treffen.

Das Album beginnt mit dem dringlichen „This is my letter to the world, that never wrote to me“: die Sehnsucht, gesehen zu werden – ein Gefühl, das auch Şahin kennt. Nicht nur deshalb erzeugte die neuerliche Auseinandersetzung mit der zu Lebzeiten kaum wahrgenommenen Dichterin bei ihr das Gefühl einer „imaginären Zusammenarbeit“, die beide nun auf jeden Fall – posthum und real – schmückt.

Weiterführende Links Video zu „Let Go“ aus Defne Şahins neuen Album „Hope“.

Text
Reinhard Köchl
Foto
Harun Güler

Veröffentlicht am unter 151, Feature, Heft

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