Der Architekt des Afrobeats

Zum Tod von Tony Allen

Tony AllenTony Allen

Mit großer Bestürzung hat die Musikwelt den plötzlichen Tod der Schlagzeuglegende Tony Allen aufgenommen. Der 79-Jährige starb völlig unerwartet am Donnerstag, den 30. April, in seiner Wahlheimat Paris, kurz nachdem er ins Krankenhaus eingeliefert worden war, weil er sich unwohl fühlte. Sein Tod steht offenbar nicht im Zusammenhang mit Covid-19.

Heute ist der Begriff „Afrobeat“ weltweit in aller Munde, sein Architekt war Tony Allen. 1940 im nigerianischen Lagos geboren, formte er die afrikanische Popmusik seit den 1960ern entscheidend mit. „Ich wollte der beste Drummer Nigerias werden, hatte aber anfangs keinen blassen Schimmer, wie ich das anstellen sollte“, erinnerte er sich in seiner Wahlheimat Paris während eines Interviews mit dem Autor für Jazz thing 2008. „Da geriet mir die Jazz-Zeitschrift DownBeat in die Hände, mit einer Lektion von meinem amerikanischen Kollegen Max Roach. Seine Anweisungen kombinierte ich mit allem, was ich vorher in Nigeria gelernt hatte – und plötzlich spielte ich wie niemand anders.“ Ein weiteres Idol wird Art Blakey.

Erstmals wandte Allen seine Spielweise bei der Combo Cool Cats von Victor Olaiya an. Aufmerksam auf seine rhythmischen Künste wurde 1964 ein weiterer Landsmann: Fela Kuti, charismatischer Bandleader, gerade auf der Suche nach einem Drummer für seine Koola Lobitos: „Er sagte, ich würde wie vier Schlagzeuger gleichzeitig spielen“, erinnerte sich Allen. Tatsächlich rätseln Drummer bis heute über das synkopische, polyrhythmische Hexenwerk, das Allen mit verblüffend ökonomischer Spielweise zauberte. Er verschmolz mit seinem Drumkit, liebkoste die Felle aus dem Handgelenk, bediente das Bassdrum-Pedal kernig und zärtlich zugleich. Dabei glich er einem passioniert rührenden Koch am heimischen Herd – und tatsächlich hieß später denn auch eines seiner zentralen Werke „Home Cooking“.

Gemeinsam entwickelten Allen und Kuti 1968/69 aus dem in Westafrika populären Highlife, Yoruba-Traditionen und Jazz-Einflüssen einen neuen Stil, den sie auch politisch aufluden: hypnotische Grooves und Antwortchöre mit provokanten Texten an die Adresse der korrupten Machthaber, diese manchmal 30 Minuten langen Stücke werden prägend für die neue Band Africa 70. Immer wieder ist die Parallele gezogen worden zwischen Afrobeat und dem Funk von James Brown.

Allen stellte damals für Jazz thing 2008 klar: „Ich würde nie sagen, Funk habe aktiv den Afrobeat beeinflusst, auch nicht die Gegenrichtung. Das passierte allenfalls unterschwellig. Aber es war tatsächlich so, dass Brown mit seiner ganzen Band nach Lagos kam und seinen Arrangeur als Spion neben mich setzte. Der sollte genau aufschreiben, was ich da spiele. Ich dachte mir damals: ‚OK, in aller Ruhe warte ich jetzt mal ab, ob irgendjemand mich imitieren kann.‘ Ich warte bis heute!“ Nachdem Allen 30 Platten mit Kutis Afrobeat-Orchester eingespielt hatte, gingen die beiden Ende der 1970er getrennte Wege. Die Allüren seines Chefs, die riesige Entourage von Africa 70 – das war nicht die Welt des bescheidenen Mannes mit der schnarrenden Stimme.

Allen nahm zunächst nur ein paar wenige Alben unter eigenem Namen auf, „No Accommodation For Lagos“ das wichtigste unter ihnen. In der Wahlheimat Paris musste er lange Durststrecken durchstehen, bis ihn zur Jahrtausendwende eine neue Generation wiederentdeckte. Dafür verantwortlich war zunächst der Elektro-Produzent Doctor L, der mit ihm psychedelisch eingefärbte Alben wie „Black Voices“ einspielte, auch der finnische Musiker Jimi Tenor entdeckte den Nigerianer.

Tony AllenTony AllenAb diesem Zeitpunkt ging Allen unzählige Teamworks ein. Man konnte ihn in Marokko beim Gnawa-Festival von Essaouira mit Sufis auf der Bühne sehen, als Rhythmusgeber für eine haitianische Bigband und in Damon Albarns afroeuropäischem Trupp Africa Express wurde er Stammgast. Fast ein Dutzend Alben veröffentlichte er während seines zweiten Frühlings, unter ihnen das grandiose Alterswerk „The Source“, jazzig wie nie zuvor, 2017 entstanden mit einer jungen Band.

Und vor wenigen Wochen erschien noch „Rejoice“, eine Session, die mit dem 2018 verstorbenen südafrikanischen Flügelhornisten Hugh Masekela von World-Circuit-Produzent Nick Gold eingefangen worden war und nun zum doppelten Vermächtnis wird. Parallel dazu war es Allen immer ein Anliegen, wie etwa auf „Secret Agent“ (2008), junge nigerianische Musiker zu fördern.

Im Alter konnte er sich darüber freuen, dass der Afrobeat zu einer globalen Angelegenheit wurde. Bands in Brooklyn und Toronto, aber auch in Berlin, Stockholm und Tel Aviv haben Allens und Fela Kutis Errungenschaften adaptiert. „Ich sehe, wie der Baum, den ich mal gepflanzt habe, viele Zweige bekommen hat“, sagte er mit einem milden Schmunzeln.

Einige meiner Erinnerungen an ihn sind besonders: Erstmals traf ich Tony nahe der Porte de Clignancourt im Norden von Paris zu einem eindrucksvollen Interview im Séparée eines arabischen Teehauses, wo er nach dem langen Gespräch noch die Geduld hatte, mir unzählige LPs zu signieren. 2013 sah ich ihn völlig unvorbereitet, wie er während eines Konzerts der New Yorker Afrobeat-Band Antibalas für einen Gastauftritt bei Jazz à La Vilette auf die Bühne kam, und der Antibalas-Drummer Miles Arntzen ehrfürchtig in die zweite Reihe zurücktrat. Zwei Jahre später erklärte er uns Journalisten im marokkanischen Essaouira, mit seiner sanften Stimme kaum über die parallelen Muezzin-Rufe hinwegdringend, wie sich die Afrobeat-Rhythmik mit der der Gnawas wunderbar vereinbaren lässt, und lieferte dann mit dem Gnawa-Meister Mohammed Koyou aus Marrakesch eine relaxte Mitternachtssession zur rollenden Gischt des Atlantiks ab.

Zuletzt habe ich ihn exakt vor einem halben Jahr beim JazzNoJazz-Festival in Zürich gesehen: Ich bin vorsichtig mit dem überstrapazierten Wort „Trance“, aber was an diesem Allerheiligen-Abend mit der jungen Band The Source entstand, versetzte mich in einen Zustand, der nicht mehr ganz diesseitig war. „Ihr seid ja nicht hier, um mich reden zu hören“, entschuldigte sich Allen an jenem Abend für seine knappen Ansagen. Ein Mann der großen Worte war er nicht, wohl aber des großen Spiels. Mit Tony Allen verlieren wir einen unvergleichlichen Rhythmusgeber, der hohes technisches Können, unermüdlichen Einsatz für seine Musik und tiefe Menschlichkeit vereinte.

Text: Stefan Franzen

Text
Stefan Franzen

Veröffentlicht am unter News

Deutscher Jazzpreis 2024