Die Vibes von Villingen. Renaissance bei MPS

Strukturen für die Zukunft

PercussionNun ist der Filius, den man in den Homevideo-Sequenzen der MPS-Doku „Jazzin‘ The Black Forest“ als pubertierenden Blondschopf sehen kann, 60, genau wie sein Geschäftspartner Friedhelm Schulz. Beide denken schon weiter, wollen Strukturen schaffen, die in die Zukunft weisen, über ihre Lebenszeit hinaus. „Es ist eine Verbundenheit zur Arbeit meines Vaters, ich möchte, dass es weitergeht“, sagt der Sohn. Die alten Recken, mit denen seinerzeit gearbeitet wurde, wie etwa einen Monty Alexander, kann und will man sich momentan nicht leisten. Denn Schulz und Brunner-Schwer wollen ganz im Sinne der ursprünglichen Labelphilosophie konsequent ohne Unterstützung und Fördergelder auskommen. Man setzt nun auf die nächste Generation: „Wir arbeiten jetzt vorrangig mit jungen Künstlern, mit denen wir zusammenwachsen möchten und die unsere Philosophie teilen, nicht nur Forderungen stellen“, erläutert Schulz. Dabei tastet man sich langsam aus dem regionalen aufs gesamtdeutsche und auch aufs internationale Parkett. Fis Füz sind mit ihrer Verwurzelung in Freiburg, aber auch in Köln und Istanbul da ein Paradebeispiel. Sie haben ihre letzte Produktion für einen anderen Verlag schon des Sounds wegen in Villingen eingespielt, für die Scheibe mit Trovesi entschieden sich die Musiker nun, gleich auf dem Label zu veröffentlichen. Im Herbst wird die CD erscheinen.

Ganz ähnlich liegt der Fall bei Esther Kaiser: Die Sängerin mit Wurzeln in Freiburg wählte HGBS für die Einspielung ihres jazzigen Volksliedprojekts „sternklar“ mit dem Pianisten Claus Dieter Bandorf und weiteren Künstlern der Berliner Szene. Aus dem nahen Stuttgart kam die Jazzpreisträgerin Gee Hye Lee sowohl mit großer Besetzung herüber, als auch im intimen Setting ihres Piano-Trios. Stichwort Piano: Guldas Bösendorfer ist natürlich die Geheimwaffe der Villinger. Johannes Mössinger, sonst für Aufnahmen immer mal wieder gerne in New York mit seinem Trio unterwegs, zog es für seine neue Solo-CD zurück in die Schwarzwaldheimat. „Poetry“ ist denn auch ein Zeugnis wahrer pianistischer Urkraft geworden, der berühmte Flügelsound klingt auf seiner Scheibe so unmittelbar wie seinerzeit bei den Sessions mit dem Österreicher. Und auch Fremdlabels nutzen die Villinger Örtlichkeiten: So fand sich etwa das Veteranen-Doppelgespann Günter Baby Sommer und Ulrich Gumpert für ihre kürzlich bei Intakt erschienene CD „La Paloma“ in der Richthofenstraße ein.

Anknüpfen an Vergangenes

Anfragen an HGBS kommen mittlerweile auch aus dem Ausland, mit einem ganz überraschenden Spin zu alten MPS-Scheiben:

„Letztes Jahr sind vier Holländer an uns herangetreten, mit dem Wunsch hier, wo auch Oscar Peterson aufgenommen hat, eine Session zu machen. Denn sie spielen genau auch diese Musik mit unheimlicher Begeisterung und Energie. Die waren zwei Tage da, haben sich wohlgefühlt, es war ein Erlebnis für sie. Einer hat ins Gästebuch geschrieben, dass es für ihn das Größte im Leben war, hier zu spielen“, verkündet Schulz stolz.

Hans Kwaakernaat und seine drei Mitstreiter ließen sich fürs Cover ihres Albums „Hello Oscar“ denn auch nicht nehmen, vor der Brunner-Schwer Villa genauso zu posieren, wie es 1969 einst das Peterson-Trio und Herb Ellis für „Hello Herbie“ getan hatten. Man kann die beiden Coverfotos förmlich übereinander legen.

MischpultWeg von der Tastenarbeit: MPS setzte in den Siebzigern auch in Acappella-Gefilden zu technischen Höhenflügen an, mit dem Aushängeschild Singers Unlimited. Für die amerikanischen Stimmenkünstler schaffte Brunner-Schwer eigens eine 24 Spur-Bandmaschine von Ampex an, trieb mit Arrangeur Gene Puerling die Auffächerung der Pfefferminzakkorde ad absurdum. „Das war damals nie auf die Bühne zu kriegen“, erinnert sich Matthias Brunner-Schwer. „Basierend auf dieser Idee haben wir nun mit Nicol Matt ein Orchestra of Voices zusammengestellt. Es gibt bereits drei Titel, die als Single herauskamen, unter anderem mit Ravels ‚Bolero‘ und einem Schlager namens ‚Barfuß im Regen‘. Wir sind dabei, auszutesten, wo wir stilistisch hinkommen können.“ HGBS setzten auf den neuen Trend zum Singen und bauen darauf, dass dieses bis zu 150 Tonspuren starke Projekt eines Tages live realisiert werden kann.

Analoge Technik, junge Köpfe

Dass man auf analoge Technik setzt, birgt natürlich auch besondere Herausforderungen: Zum einen müssen die Tonmeister mit den Maschinen von einst vertraut sein: „Unsere Familie unterhält seit Jahrzehnten exzellente Beziehungen zum Tonstudio Bauer in Ludwigsburg“, unterstreicht Matthias Brunner-Schwer. Aus deren Personal schöpft man bis heute, und die jungen Bauer-Techniker sind alle mit den patinabesetzten Maschinen von Telefunken und Ampex vertraut, die einst der legendäre Toningenieur Rolf Donner bediente. Kniffliger könnte es eines Tages bei den alten Neumann U47 und U67-Mikrofonen werden. Geht eine Röhre kaputt, kostet das 500 Euro, doch Hans Georg Brunner-Schwer hat sie seinerzeit richtig gehend gehortet, da ist noch ordentlich Reserve vorhanden. Eine komplette Produktion für Vinyl ist immer noch möglich, und Johannes Mössinger hat für „Poetry“, die auch als 180 Gramm-Pressung erschien, davon Gebrauch gemacht.

Fundus von Ellington bis Herbolzheimer

MPS ArchivNicht nur in neuen Projekten liegen die Zukunftsperspektiven des Villinger Hauses. Matthias Brunner-Schwer hat mit den Studios auch ein 4000 Bänder starkes Archiv vom Vater geerbt, dessen Rechte nicht auf Polygram übergegangen sind.

„Er hat grundsätzlich alle Künstler mitgeschnitten, die bei uns zu Besuch waren, aber er hat auch unterschrieben, dass er nichts davon veröffentlicht, wenn der Künstler vertraglich anderweitig gebunden war. Da ist eine Menge unveröffentlichtes Material, teilweise 45 Jahre alt, unter anderem sogar von Duke Ellington. Unsere große Bestrebung ist es, Einiges davon rauszubringen. Doch die Rechte zu klären ist oft sehr knifflig, die Künstler sind ja teils verstorben und man muss erst mal die Erben ausfindig machen.“

Erste Früchte aus der gigantischen Asservatenkammer haben schon das Licht der Welt erblickt: Wolfgang Dauners „Knirsch“-Album konnte so erscheinen, konterkariert durch eine aktuelle LP-Aufnahme des Tastenaltmeisters („Tribute To The Past“). Ferner eine Aufnahme von Horst Jankowski aus dem Jahre 1971 („Swinging Explosion“, ebenfalls auf LP) und eine Doppel-CD von Peter Herbolzheimer, die das erste MPS-Album des Bigbandchefs überhaupt mit Bundesjugendjazzorchester-Aufnahmen 40 Jahre später vereint. Um CD-Wiederveröffentlichungen aus dem Rechtekatalog von Polygram kümmert sich mittlerweile Bodo Jacoby mit seinem Label Promising Music – auch mit ihm, der viele Interessenten in Japan und in den USA mit dem MPS-Sound versorgt, arbeiten die Villinger reibungslos zusammen.

Botschafter in Kanada

So beschaulich der Schwarzwald auch sein mag – dass hier in den 1960ern und 70ern Jazzgeschichte mit weltweiten Auswirkungen geschrieben wurde, sorgt bis heute für kleine Nachbeben. Das erfuhr man bei HGBS, als sich eines Tages der stellvertretende deutsche Botschafter in Ottawa meldete, seines Zeichens großer Jazzfan. Das Bindeglied zwischen Kanada und Villingen war einmal mehr Oscar Peterson, der zum Thema eines Besuchsprogramms von Brunner-Schwer und Schulz wurde. Als Musikbotschafter reisten die beiden kürzlich nach Ottawa, Montreal und Toronto: In einer Ausstellung mit Memorabilien aus dem Studiofundus und Konzerten, an denen unter anderem Peterson-Bassist Dave Young teilnahm, brachte man der Ahornnation das Wirken ihres großen Landsmanns in Germany nahe, machte Werbung für die „Wiederauferstehung“ der Studios. Begleitet von großem Medieninteresse: Neben mehreren Radiointerviews haben es die deutschen Besucher mit einem TV-Beitrag bis ins dortige „Tagesthemen“-Pendant geschafft. Ehrensache, dass während der transatlantischen Exkursion auch vor dem Peterson-Denkmal in der kanadischen Kapitale posiert wurde.

Der Schlussakkord von „Campanello Cammelato“ verklingt. Die Musiker legen Instrumente und Kopfhörer beiseite, kommen erwartungsvoll in den Regieraum hinüber, hören sich kritisch die Einspielung an. Gianluigi Trovesi ist mit einem Triller nicht zufrieden. Wenige Klicks auf dem Bildschirm, und die Tonkurve sitzt sekundengenau. Denn einen Computer gibt es bei HGBS nun schon, zwischen all den altehrwürdigen Bandmaschinen und Pulten.

Veröffentlicht am unter 96, Feature, Heft

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