Peter Brötzmann

Der letzte Romantiker

Peter Brötzmann ist am 22.6.2023 verstorben. Aus diesem traurigen Anlass veröffentlichen wir hier die Titelgeschichte aus der aktuellen Ausgabe:

Einem interessierten deutschen Jazzpublikum Peter Brötzmann vorstellen zu wollen hieße, die Schwebebahn nach Wuppertal zu tragen. Er war ein Jazzrevoluzzer der ersten Stunde, gehörte der ersten Generation des europäischen Free Jazz an, ohne jemals dem ritualisierten Kanon des Free Jazz aufzusitzen. Bis ins hohe Alter weiß der mittlerweile 81-jährige Berserker an Saxofon und Klarinette zu überraschen, zu provozieren und zu gewinnen. Auf dem letztjährigen JazzFest Berlin legte er einen gefeierten Auftritt mit Guembri-Spieler Majid Bekkas und seinem langjährigen Gefährten Hamid Drake am Schlagzeug hin, das jetzt unter dem Titel „Catching Ghosts“ auf ACT veröffentlicht wird.

Peter Brötzmann (Foto: Arne Reimer)

Die Zeitlosigkeit und Spiritualität des Konzerts, dieses sich über alle Grenzen des Erwartbaren Hinwegsetzen war ungemein faszinierend. Man hatte den Eindruck, durch Jahrhunderte zu reisen. Wie hast du dieses Konzert empfunden?

Für uns war das zunächst mal normale Arbeit. Mit Hamid arbeite ich inzwischen seit mehr als 25 Jahren zusammen. Bekkas kennen wir aus einer kleinen Tour in Marokko, der sich damals ein paar Jobs in Europa anschlossen. Was war also neu? Vielleicht, dass wir alle ein bisschen älter geworden sind. Bekkas ist ja der Jüngste von uns. Als wir das erste Mal mit ihm arbeiteten, war er noch sehr jung und auch nicht sehr erfahren. Inzwischen hat sich aber viel bei ihm getan. Ich selbst habe im Lauf der langen Jahre sicher auch ein bisschen dazugelernt. Und Hamid ist ohne Frage einer der großen Schlagzeuger unserer Zeit. Er kennt sich mit all diesen komplizierten nordafrikanischen Rhythmen ungemein gut aus. Insofern passen die beiden gut zusammen. Ich habe versucht, mich anzupassen und auch mal dazwischenzufunken, wenn es mir zu schön wurde.

Du hast ja unzählige musikalische Ethnien und Genres mit deinem unverwechselbaren Personalstil kombiniert. Dabei ist Brötzmann immer Brötzmann geblieben. Wie viel Vorbereitung kostet es dich aber, dich auf all diese Situationen, Menschen und Idiome einzulassen?

Das ist schon eine spontane Angelegenheit. Ich weiß ganz genau: Was Bekkas zum Beispiel in die Wiege gelegt bekam, kann ich in keinem Crashkurs lernen. Bekkas hat Bekkas, und Brötzmann hat Brötzmann. Es hat keinen Zweck, wenn Brötzmann sich verbiegt. Mir kam schon früh die Erkenntnis, dass jeder Musiker und jede Musik zueinander passt, wenn man nur mit Respekt aufeinander zu geht und die Ohren öffnet. Der Fehler dieser ganzen Weltmusik besteht darin, dass man immer alles gleichzumachen versucht. Das Gegenteil ist notwendig, nämlich dass jeder so bleibt, wie er ist, und einbringt, was er hat.

Majid Bekkas ist ja nicht der erste Marokkaner, mit dem du spielst.

Ich habe mit dem Altmeister Mahmoud Ghania angefangen, mich mit der nordafrikanischen Musik zu beschäftigen. Das heißt nicht, dass ich das studiert hätte. Ich habe es nur ab und zu gehört. Vor vielen Jahren haben Hamid und ich mit ihm zusammengespielt. Das war eine ganz andere Welt, denn das war afrikanische Musik. Bekkas ist ja schon die übernächste Generation, die viel mehr mit den westlichen Einflüssen und Mechanismen vertraut ist. Dieses Urgestein Mahmoud Ghania war ein ganz wichtiger Punkt für mich. In meinem Leben spielten Trommler immer eine entscheidende Rolle. Die Guembri ist ja nicht nur ein Bass, sondern auch ein Rhythmusinstrument. Als ich das erste Mal mit Mahmoud spielte, hatte ich Bass und Schlagzeug in einem Instrument. Wenn ich dann mit Hamid und Bekkas spielte, war somit nicht nur eine Basslinie da, sondern auch ein zweites Rhythmusinstrument.

Peter Brötzmann (Foto: Arne Reimer)

Das von dir beschriebene Problem des Einlassens finden wir ja nicht nur in der sogenannten Weltmusik, sondern auch im Free Jazz.

Da kann ich nur zustimmen. In dem, was man heutzutage als improvisierte Musik oder Free Jazz bezeichnet, gibt es so viel Angelerntes, dass ich es manchmal zum Heulen finde. Einfach nur um der Improvisation willen zu improvisieren ist mir zu wenig. Als die Amis damit in den Endfünfzigern anfingen, kam das ja nicht umsonst. Das war keine Laune, sondern ein Muss. Bei den Amerikanern war es eine Reaktion auf die Rassenpolitik, für mich als Nachfahre des Krieges war es eine Möglichkeit, mich von all diesen Erfahrungen zu befreien. Ich hatte Berendts Jazzbuch gelesen, darüber hinaus wusste ich nichts über Jazz. Im Gegensatz zu den Skandinaviern, Engländern oder Niederländern hatten wir in Deutschland überhaupt keine Ahnung. Wir mussten für uns alles neu erfinden. Was man damals Free Jazz nannte, war für uns ein echtes Bedürfnis. Die Tatsache, dass man heute Free Jazz an der Hochschule lernen kann, ist der größte Widerspruch der Musikgeschichte.

Ornette Coleman hat gesagt, er könne sich nur einmal befreien, aber freier als frei könne er nicht sein.

Richtig! Vielleicht muss man ein wenig älter werden, um das zu begreifen. Freiheit kann nur in dir selbst existieren. Die Freiheit nach außen ist hingegen eine ganz begrenzte Angelegenheit. Die Freiheit, die man mit anderen Leuten zusammen auf der Bühne schafft, kann sich nur ergeben, wenn man Verantwortung übernimmt. Verantwortung für das, was zum Beispiel im ganzen Kollektiv passiert, Verantwortung fürs Ganze. Das kann man nicht auf Hochschulen lernen. Insofern ist der Versuch, Free Jazz am Leben zu erhalten, totaler Blödsinn. In meinen Augen ist das schon längst gestorben. Als Mitte der 1960er-Jahre in den Südstaaten noch Menschen gelyncht wurden, wollte man keine Lieder mehr spielen. Da musste etwas passieren. Das war der Punkt, an dem die amerikanischen Musiker anfingen, anders zu denken. Und wir Europäer hatten als Nachkriegsgeneration andere, aber für uns ebenso wichtige Probleme. Das waren die kurzen Jahre, in denen der Begriff Free Jazz Sinn ergab. Ob man sich heute auf diese Vorbilder beruft, zählt nicht. Die Gesellschaft ist eine andere geworden.

Insofern kommt es immer auf das Anliegen an, mit dem man auf die Bühne geht.

Wenn ich auf die Bühne gehe, dann bin ich das mit allem, was ich habe. Das kann an einem Abend ganz wenig sein und vielleicht am nächsten Abend etwas mehr. Ich will nicht unbedingt Leute von der Richtigkeit dessen überzeugen, was ich tue. Ich will ihnen nur sagen: „Hier bin ich, das kann ich, das will ich, das berührt mich. Könnt ihr damit etwas anfangen oder nicht?‘ Man sollte den Schritt auf die Bühne durchaus ernst nehmen, denn da hast du Leute vor dir, die neugierig sind und von dir erwarten, dass du versuchst, die Wahrheit zu erzählen – die Wahrheit über dich. Ich denke, darauf kommt es an.

Peter Brötzmann (Foto: Arne Reimer)

Vorhin hast du gesagt: Ihr habt eure Arbeit gemacht. Musik und Arbeit hängen bei dir ganz eng zusammen. Vor ein paar Jahren sah ich dich aber in Norwegen in einem Duo mit Evan Parker. Das war wie eine gegenseitige Liebeserklärung. Und plötzlich dachte ich: Der Brötzmann ist ja ein heimlicher Romantiker.

In meinem Verständnis bin ich einer der letzten Romantiker. Ich weiß nicht mehr, was Evan und ich damals getrieben haben. Auch wenn wir einst zusammen angefangen haben, entwickelten sich unsere Spielweisen und Ziele dahinter inzwischen weit auseinander. Wenn das Konzert trotzdem so rüberkam, freut mich das.

Ein paar Jahre später hast du in der Berliner Akademie der Künste mit Heather Leigh und Keiji Haino gespielt. Das war so eine Veranstaltung, in der die alten Zeiten noch mal aufleben sollten. Die Leute sind reihenweise rausgerannt, weil ihnen das zu extrem war. Ich war beeindruckt, dass du mit Ende 70 immer noch so provozieren konntest.

Ich fand die ganze Situation in diesem Konzert nicht so angenehm. Nach meinem Verständnis war es auch keines meiner besseren Konzerte. Keiji ist ein großartiger Musiker, aber manchmal klappt er die Ohren zu und macht nur noch seine Geschichten. Ich mache die Ohren lieber auf. Und dann gibt es zwischen uns eben auch mal ein paar Missverständnisse. Aber Missverständnisse gehören zur Kommunikation ja dazu. Die Musik braucht Streitkultur. Das Publikum wollte damals sicher etwas anderes hören. Mir war es aber wichtig, dass inzwischen 40 Jahre vergangen waren. Ich wollte zeigen, dass ich es mir in der alten Ecke nicht gemütlich mache. Ich will noch etwas erfahren und dazulernen. In den Jahren vor Corona habe ich mit Heather Leigh die ganze Erde umreist. Diese Dame ist für mich eine große Herausforderung, weil sie mich mit ganz anderen Dingen konfrontiert als Bass und Schlagzeug. Nach diesen Herausforderungen suche ich.

Text
Wolf Kampmann
Foto
Arne Reimer

Veröffentlicht am unter 149, Feature, Heft

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