Oded Tzur

Raga + Blues = Liebe

Oded Tzur gehört zu den bemerkenswertesten Saxofonisten der aktuellen Szene. Auf der Suche nach dem eigenen Ton ist er auf die klassische indische Musik und ihre strukturellen Verbindungen zum Blues gestoßen. Die Schlussfolgerung? Eine ganz eigenständige, mal hauchzarte, mal zupackende Improvisationsmusik. „Isabela“ (ECM/Universal), sein neues Album, trägt den Odem eines Liebesgedichts.

„Mit 17, bei einem Schulausflug, sind wir an einem Fluss entlanggegangen“, beschreibt Oded Tzur seine Epiphanie, „da wuchs diese Pflanze, aus der man Saxofonblättchen macht. Ich habe auf diese Pflanze gestarrt und gedacht: All die Sounds, die ich spiele, kommen aus dieser Pflanze – aber die ganze Musik, die ich spiele, kommt von sehr weit her, aus den USA, von Menschen, die ein ganz anderes Leben führen als ich. Plötzlich war da eine Kluft zwischen dieser Musik und meinem eigenen Platz darin. Mir wurde klar, es muss für mich noch etwas anderes geben.“

Nitai Hershkovits, Oded Tzur, Petros Klampanis, Jonathan Blake (Foto: Caterina Di Perri)

Geboren 1984 in der Nähe von Tel Aviv, aufgewachsen in dem großen Schmelztiegel namens Israel, kam Tzur erst an der High School in tiefere Berührung mit dem Jazz. Tzur beschreibt diese Begegnung wie eine Liebesgeschichte, doch mit dem Moment auf dem Schulausflug war etwas erschüttert in der Liebe. „Es stellte sich die Frage“, erklärt er sein Dilemma, „was ist meine Sprache? Du kannst natürlich ein bisschen hier nehmen und ein bisschen dort und dann alles zusammenmischen, und dann packst du es in eine Schüssel und machst daraus einen Salat. Aber ich wollte keinen Salat machen.“

Orientierung fand Oded Tzur in der Literatur. Bei dem Mythenforscher Joseph Campbell stieß er auf die Beobachtung, dass Mythen in vielen Kulturen um das Motiv der Heldenreise kreisen. „Die Details sind überall andere, aber unter dieser Schicht der Details findet man immer die gleiche Heldenreise. Offenbar kommt diese Vorstellung direkt aus unserem Unterbewusstsein. Ein Mythos ist ein öffentlicher Traum, ein Traum ist ein privater Mythos. Das hat mich sehr inspiriert.“

Tzur stellte sich die Frage, ob es auch in der Musik eine musikalische Grammatik gibt, die überall gleich ist. In der indischen klassischen Musik fand er, was er suchte. „Wie jedes andere musikalische Genre kommt auch die indische klassische Musik von einem bestimmten Ort, aber zugleich enthält sie die Perle einer Universalität. Sie ist systematisch, wie ein Soundlabor. Du nimmst einfach eine Note und dann noch eine zweite, dann hast du ein bestimmtes Intervall, und allein damit kannst du Stunden verbringen. Wenn du nur eine der beiden Noten ein ganz kleines Stück höher spielst, dann klingt das so anders, nur diese kleine Veränderung. Es geht darum, diese Sounds zu untersuchen.“

Zehn Jahre, sagt Tzur, habe er gebraucht, um sich so weit in das System der Ragas, in die Regeln der Ton- und Melodiebildung, die feinen mikrotonalen Abstufungen und Verzierungen einzuarbeiten, dass sie sich in seine eigene Musik fügen lassen. Im Studium bei Hariprasad Chaurasia, einem Meistermusiker der indischen Bansuriflöte in Rotterdam, entwickelte er seine Technik, dem Saxofon die sanften Tonhöhenübergänge der klassischen indischen Musik abzuringen, und reifte zu einem markanten Instrumentalisten, der auf der Basis des Campbellschen Gedankenguts eine Brücke zwischen Ost und West schlägt.

„Die Ragas der indischen Musik erinnern mich sehr stark an den Blues. Auch der Blues spielt nie in Dur oder Moll, es geht immer um diese Bewegung zwischen den Punkten, um Spannung und Entspannung. Das ist also nichteuropäisch in dem Sinn, dass es keine temperierte zwölftönige Skala gibt.“

„Isabela“, sein neues Album, ist für den Saxofonisten ein großer Schritt. Geplant als musikalisches Porträt seiner Frau im strukturellen Rahmen eines Raga, erforderte es eine Neukalibrierung seiner musikalischen Sprache.

„Ein großer Teil meiner Musik spielt sich in dem Bereich zwischen dem allerleichtesten Ton und kompletter Stille ab, weil das die Frage der Unendlichkeit berührt. Aber jetzt sind wir als Band an einem Punkt, wo wir auch mit der Unendlichkeit auf der anderen Seite arbeiten, wenn alles wirklich laut und dramatisch wird und „boom‘ macht und explodiert.“

Von „Invokation“, dem Opener des Albums, der in der Art eines Chalan die Kerneigenschaften des ganzen Raga vorstellt, bis hin zu verschiedenen dynamischen und melodischen Ausweitungen erzeugt Tzur nach den Vorgaben des Raga eine Palette von Schattierungen, die der Komplexität einer Persönlichkeit entspricht. Nicht, weil es der Raga erfordert, sondern, weil diese Erweiterung der Spielzone für Tzur einer „universellen Regel“ folgt.

Text
Stefan Hentz
Foto
Caterina Di Perri

Veröffentlicht am unter 144, Feature, Heft

Leipziger Jazztage 2024