Die Wut des Poeten. Gianmaria Testa

Als Leonard Cohen Italiens ist dieser Mann nicht umsonst bekannt. Kennzeichen des Cantautore aus dem Piemont waren auf den vergangenen Platten stets seine ruhigen, intimen Arrangements, gepaart mit einer delikat brummenden Sprechstimme, die feinsinnige Alltagsbeobachtungen vortrug.

Gianmaria Testa (Foto: Marco Caselli Nirmal)Nun schockt Gianmaria Testa auf seinem aktuellen Album Vitamia (Chant Du Monde/Harmonia Mundi). mit rotzigen Rockgitarren und gar Industrialrhythmen.

„Es stimmt, ich bin ein wenig wütender geworden“, bekennt er, „und manche meiner Texte bedürfen nun dieser Rockenergie. Ich singe über die dramatische Situation, die wir momentan in Italien haben. Einer von drei jungen Leuten bekommt keine Arbeit und unser Land ist dabei, zum größten Problem Europas zu werden.“

Und er haut weiter in die politische Kerbe: Testa graust es vor der Immigrantenpolitik der Regierung, die vergesse, dass ohne die Einwanderer das Land zusammenbräche, und er hält die Bestrebungen der Lega Nord, die den maroden Süden vom funktionierenden Norden des Landes abspalten will, für Idiotie. „Das ist wie im Mittelalter, als man einen kranken Fuß einfach amputiert hat“, schimpft er und hat den Separatismus in dem metaphergewaltigen und sprachspielerischen Song „20 Milla Leghe“ verarbeitet.


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Gianmaria Testa (Foto: Marco Caselli Nirmal)Doch der krausköpfig-schnurrbärtige Liedermacher kritisiert nie vom hohen Ross herunter. Er liebt Italien und die italienische Sprache, will ihr mit jeder Zeile Respekt zollen. Denn von Kind auf ist Testa mit seiner Erde verbunden gewesen, im wahrsten Wortsinn. Bis er zwanzig war, arbeitete er mit seinem Vater auf dem Feld. „Durch diese direkte Verbundenheit spüre ich immer noch meine piemontesischen Wurzeln.“

Für über 25 Jahre ging er ging dann in den Staatsdienst, arbeitete als Bahnhofsvorsteher und Streckenüberwacher zwischen Turin und Nizza. Auch das hat auf seine Liedkunst abgefärbt, die er durch seinen sicheren Job ohne fiskale Zwänge ausüben konnte.

„Auf den Bahnhöfen“, so sinniert er, „kannst du noch erleben, wie Menschen sich in einer altertümlichen Weise begegnen. Ganz im Gegensatz zu den aseptischen Flughäfen, die mich eher an Hospitäler erinnern. Ein Bahnhof atmet Menschlichkeit, auch wenn das mit den Hochgeschwindigkeitszügen allmählich auch verschwindet.“

Das neue Werk des 53jährigen ist auch dies: ein wehmütiges Horchen auf unwiederbringliche Zeiten.

„In den Siebzigern hatten wir das Gefühl, zusammen auf ein bestimmtes Ziel hin zu leben. Heute gibt es dieses Gemeinschaftsgefühl nicht mehr. Zum Glück bringt mir mein Leben immer noch Tage, an denen ich fähig bin zu träumen und zu hoffen. Denn das ist es doch, was uns heute so fehlt.“

Text
Stefan Franzen
Foto
Marco Caselli Nirmal

Veröffentlicht am unter 91, Feature, Heft

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