Christian Muthspiel

Jazz im Großformat

Mit dem Orjazztra Vienna hat Christian Muthspiel eine Vision verwirklicht, die ihn schon seit seiner Zeit im Vienna Art Orchestra begleitet. Im August 2022 spielen sie in München die Uraufführung seines neuesten Werks – einer „Riesenradoper“.

Christian Muthspiel (Foto: ORF / Joseph Schimmer)

Originelle Werke kreiert Christian Muthspiel gern. Sein über Jahrzehnte entstandenes Spektrum von Yodel Group über Jazzensemble bis zu orchestralen Kompositionen dokumentiert das gut. Das mit dem Riesenrad ist allerdings neu. So soll es aussehen: 27 Musizierende in den 27 Gondeln des Riesenrads im Werksviertel im Osten Münchens, wo in einigen Jahren der neue Konzertsaal erstrahlen soll. Alle spielen, aber nicht zusammen – jedenfalls nicht unmittelbar wie im normalen Konzert. Die Musik wird professionell abgemischt und auf den Platz ausgestrahlt, samt parallelem Split-Screen-Video auf einer Leinwand. Es ist ein Auftrag für das „Out of the Box“-Festival, die Uraufführung sollte am 4. Februar 2022 stattfinden, wurde aber pandemiebedingt auf nun 6. August verschoben. Muthspiel erzählt davon von seinem Zuhause bei Wien aus im Videointerview.

Sein Orjazztra Vienna – ein Jazzorchester mit Doppelbesetzung bei Bass und Schlagzeug, vielen Holz- und weniger Blechbläsern – darf sich dann in anderer Umgebung entfalten. Hinzu kommen als Gäste weitere Musiker und drei Sängerinnen. Das Orjazztra ist die Band, von der Muthspiel lang geträumt hat, seit 2019 tritt er damit nun auf.

Er komponiert anspruchsvolle, facettenreiche, oft polyrhythmische Musik in der Sphäre zwischen Jazz und Zeitgenössischem. Ein dreiviertelstündiges Stück wie die „Riesenradoper Umadum“ ist trotzdem eine Herausforderung. Nachdem er über Jahre einen Stapel Konzerte, etwa für Orchester mit Solisten wie Håkan Hardenberger und Gautier Capuçon, verfasste, ist der Komponist gut gerüstet.

„Dieses Stück ist viel mehr verortet in der Welt der Improvisation“, stellt er fest. „Zum Teil gibt es sehr dezidierte Vorgaben, teilweise sind die Freiräume aber sehr groß.“ Soloparts, Improvisation, freies Spielen, aleatorische und verbale Vorgaben sollen dazu beitragen, dass die Komposition am Ende live zum Gesamtkunstwerk werden kann. Die Partitur – derzeit 31 Seiten – umfasst eine Seite pro Minute, dafür keine Takte. Kein Sichtkontakt, kein Dirigat: Diese Situation erfordert neue Lösungen, in diesem Fall synchronisierte Stoppuhren. Alle werden sich an Sekunden orientieren, nicht an einem Takt. „Ich glaube, diese Minuten werden einen großen Puls ergeben“, beschreibt Muthspiel. Verknüpft mit der Umdrehung des Riesenrads dürfte das, so seine Annahme, der Musik einen passenden Rahmen geben.

Erprobt hat die Combo aus hervorragenden Künstlerinnen und Künstlern vor allem der jungen österreichischen Jazzszene das Musizieren nach Stoppuhr bereits. Upper Austrian Jazz Orchestra, Christoph Cech Jazz Orchestra, eigene Bands – die jungen Leute sind auch sonst viel auf der Bühne. Als COVID-19 die Kultur über Monate lahmlegte, spielte das Orjazztra im Sommer 2020 als Human Music Machine in Graz ein Open Air-Distanz-Konzert. Trotz Abstand und Herumlaufen gelang das Zusammenspiel. Für die „Riesenradoper“ sieht sich Muthspiel von der Pandemie inspiriert:

„Beim Schreiben habe ich mich immer wieder erinnert, wie sehr mich das berührt hat, wie die Italienerinnen und Italiener in ihrer schlimmsten Zeit auf diese kleinen Balkone gegangen sind und gesungen haben.“

Er vergleicht die Gondeln mit den Wohnungen, in denen viele so lange festsaßen. Für 2022 hat Muthspiel bereits das nächste Auftragswerk im Kalender, ein Konzert in der Oper Graz zum 25-jährigen Jubiläum des Festivals La Strada. Nach den Lockdowns war aber bereits 2021 ein gutes Jahr für sein Orjazztra: „Österreich haben wir abgespielt.“ Nun rückt eine erste, internationale Tour näher.

Christian Muthspiel & Steve Swallow (Foto: Rolf Schöllkopf)

Vor allem auf das Jazzorchester möchte sich der Musiker jetzt konzentrieren. Seine Zeit in Matthias Rüeggs Vienna Art Orchestra in den 1990er-Jahren bis 2004 und Vorbilder wie Carla Bley und Gil Evans haben ihn dazu inspiriert. Das Duo mit seinem Bruder Wolfgang, sein Trio und Quartett, selbst das Duo mit Steve Swallow treten nicht mehr auf. Im November 2019 gab er mit Swallow sein letztes Konzert als Posaunist. „Ich hatte das Gefühl, das waren zu viele Baustellen“, erinnert er sich an die Zeit zuvor.

Sein wohl wichtigster Sinn als Musiker hatte ihm schon einige Jahre vorher womöglich einen Wink gegeben, die Baustellen zu begrenzen. Er wachte auf mit einem Hörsturz, hörte zuerst kaum noch, dann blieb trotz sofortiger Behandlung lange ein tonverzerrender Tinnitus. Seine „Simple Songs“ für das Duo mit Swallow wurden für ihn zur musikalischen Eigentherapie. Jetzt kann er auch für die Energie des Orjazztra wieder problemlos ganz Ohr sein.

Text
Christina M. Bauer
Foto
ORF / Joseph Schimmer, Rolf Schöllkopf

Veröffentlicht am unter 144, Feature, Heft

jazzfuel