Buch I: Auf der Suche nach dem Ungehörten

Auf der Suche nach dem UngehörtenAuf der Suche nach dem Ungehörten

Mit ihrer Schlussbemerkung im Buch „Fantasieren nach Beethoven“, das die promovierte Musikwissenschaftlerin und Projektleiterin für das Jazzfest Bonn, Anke Steinbeck, 2017 veröffentlicht hat, öffnet die Autorin bereits ein Fenster für einen möglichen Folgeband: „Sehen wir ,Jazz‘ und ,Klassik‘ nicht ausschließlich als ein ,entweder oder‘, sondern als zwei ernstzunehmende, sich auch gegenseitig bereichernde Metiers, so können in der Wechselwirkung von Struktur und Freiheit auch heute magische Momente entstehen.“ Mit ihrem kürzlich erschienenen Buch „Auf der Suche nach dem Ungehörten – Improvisation und Interpretation in der musikalischen Praxis der Gegenwart“ vertieft Steinbeck gleichermaßen die „Wechselwirkung von Struktur und Freiheit“ wie sie den vermeintlichen Gegensatz von Improvisation (Jazz) und Interpretation (Klassik) regelrecht zuspitzt.

„Ziel des vorliegenden Buches ist es, den ästhetischen Interdependenzen zwischen Interpretation und Improvisation in der zeitgenössischen Aufführungspraxis nachzuspüren“, schreibt Steinbeck in der Einleitung „Neues schaffen zwischen Form und Spontanität“. „Die These lautet: Die Verortung der Interpretation als ,klassisches‘ Merkmal sowie der Improvisation als vorrangige Jazz-Komponente und die damit einhergehende Spaltung wird in der zeitgenössischen Aufführungspraxis zusehends brüchig.“

Anders als im ersten Buch hält sich Steinbeck diesmal als Autorin eigener Beiträge zurück und konzentriert sich hauptsächlich auf ihre Gespräche mit Musiker*innen – und zwar aus dem klassischen Bereich ebenso wie aus dem Jazzsegment. Jedes ihrer Gespräche eröffnet sie mit der gleichen Frage nach dem: „Was ist Jazz?“. Die Antworten sind oftmals aufschlussreich und ermöglichen einen Gesprächsverlauf, der ebenso in die Tiefe wie in die Breite geht.

„Freiheit. Spontanität. Kommunikation. Interaktion“, so der Schweizer Vokalist Andreas Schaerer: „Mit einer vorgefertigten Strategie auf die Bühne zu gehen, führt dazu dass man sich weniger auf den Moment einlassen kann.“ Oder Anne-Sophie Mutter, leuchtender Star der Klassikszene: „Jazz macht den inneren Puls aus, der immer leicht nach vorne gelehnt scheint, sich aber doch nicht wirklich im Metrum vorwärts bewegt“, so die Violinistin: „Im Jazz bewundere ich das, was ich in der Interpretation der klassischen Musik oft vermisse: den Herzschlag, dieses agogische Umgehen mit der Zeit.“ Oder Angelika Niescier: „Jazz ist eine Fragesituation“, so die Kölner Saxofonistin: „Es geht nicht unbedingt um Antworten, sondern um Impulse und das absolute Im-Moment-Sein.“ Oder die Lettin Iveta Apkalna: „Jazz ist für mich eine große Quelle der Inspiration“, so die Organistin: „Wenn eine Fuge von Johann Sebastian Bach nicht groovt, dann ist es wie eine Gurke ohne Wasser. Daher höre ich, wenn ich mit einem Stück Musik nicht klar komme, ganz häufig Jazz.“

Drei Aufsätze von Fremdautoren beleuchten zudem Steinbecks These aus verschiedenen Blickwinkeln. Während der Jazzpianist und Professor an der Hochschule für Musik Mainz, Sebastian Sternal, gleichsam eine praktische Gebrauchsanleitung für „Improvising is living – Wie funktioniert (Jazz-)Improvisation“ gibt, liefert Julian Caskel mit „Die Notwendigkeit der Interpretation und die (Un-)Möglichkeit der Improvisation“ eine musikwissenschaftlich tiefreichende Fundierung. Daniel Martin Feige, Professor für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, macht sich darüber hinaus Gedanken über „Die Logik der Improvisation. Einige Bemerkungen zur Gestaltung der Rhythmik im Jazz“.

Diesmal beschließen zwei äußerst aufschlussreiche, den Diskurs in andere, überraschende Richtung lenkende Gespräche als Epilog Steinbecks Buch: mit der Kognitions- und Neurowissenschaftlerin Daniela Sammler, die kürzlich Jazz- und Klassikpianisten untersucht hat, und dem CDU-Politiker Norbert Lammert, der bis 2017 Abgeordneter im Deutschen Bundestag und von 2005 dessen Präsident war. „Auf der Suche nach dem Ungehörten“ ist im Dohr Verlag erschienen, hat 216 Seiten und kostet 24,80 Euro.

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Dohr Verlag

Text
Martin Laurentius

Veröffentlicht am unter News

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