Nils-Christopher

Aus dem Bauch heraus

Sänger … Hatten wir da überhaupt schon mal einen? Frauen, die mit ihrer Stimme punkten, gab es allemal in der nun schon neun Jahre währenden goldenen Ära der „Jazz thing Next Generation“. Nur einem augenzwinkernden Troubadour, einem virilen Crooner oder einem wieselflinken Scat-Bariton gelang bislang noch nicht der Sprung auf die amtliche Nachwuchs-Drehscheibe. Nils-Christopher Vögler schickt sich nun an, diese klaffende Lücke zu schließen – und wie!

Nils-Christopher - We Can BeDie Latte liegt im Jazz ja ziemlich hoch. Die wenigen bekannten Vokalisten setzten alle auf ihre eigene Art Maßstäbe: Jon Hendricks, Joe Williams oder Mark Murphy als zeitlose Vorbilder, Kurt Elling oder Theo Bleckmann in punkto Anspruch, während Peter Cincotti oder Shootingstar Anthony Strong den Soundtrack für die Tagträume der popaffinen Damenwelt liefern. Ganz zu schweigen von unantastbaren Legenden wie Nat King Cole oder Frank Sinatra.

Aber jetzt, nach 43 erfolgreichen Ausführungen in den verschiedensten Schattierungen, bekommt die nächste Generation des Jazz tatsächlich einen neuen Farbton hinzu. Er trägt den Namen Nils-Christopher (der Einfach- und wahrscheinlich auch späteren Bekanntheit halber lässt er für seine Band schon mal den Familiennamen „Vögler“ weg), eine Schiebermütze, die schon mal an Roger Cicero erinnert, ist männlich und singt, dass es einem den Boden unter den Füßen wegzieht. „Das passiert bei mir alles aus dem Bauch heraus“, scheint sich der 26-jährige Essener fast für die Wirkung seiner intonationssicheren, warmen, samtenen Stimme zu entschuldigen.

Nils-ChristopherMöglicherweise liegt in der erfrischenden Unbedarftheit Vöglers auch das eigentliche Geheimnis seines CD-Debüts „We Can Be“ (Double Moon/Challenge). Kein Jazzalbum, das nach dem absoluten Reinheitsgebot gebraut wurde, aber auch keines dieser zeitgeistig populistischen Popmachwerke. Nicht einmal etwas zwischendrin. Zwölf Songs, die über einen frischen, eigenen Groove verfügen, eine griffige Struktur sowie jede Menge harmonische Kombinationen, raffinierte Hooklines und Ohrwürmer im Überfluss. Ein Zufallsprodukt. Ein Geheimtipp. Eine faustdicke Überraschung!

„Ich mach das nicht nach dem Motto: Jetzt misch mal Jazz mit etwas Gängigem“, versucht Vögler die Entstehung seiner kompositorischen Kleinodien zu rekonstruieren. „Es soll eigentlich schon grooven und Dissonanzen vermeiden. Natürlich tauchen auch Sachen in meiner Erinnerung auf, die mir gefallen, wenn ich schreibe. Musiker, die ich mag, vielleicht sogar Sänger. Aber das Meiste geschieht bei mir sehr intuitiv. Auch die Momente, in denen ich komponiere, sind spontan. Wenn ich fertig bin, habe ich das Gefühl, etwas Eigenes geschaffen zu haben.“

Insofern dürfen sich alle, die Vögler eilfertig einen Jamie-Cullum-, Hamel- oder Michael-Bublé-Aufkleber aufs Revers pappen wollen, gleich eine neue Erklärungshilfe zusammenbasteln. Gelingen wird es kaum. Nicht einmal der Cicero-Vergleich passt, weil Vögler mit der Kopfbedeckung eigentlich bloß seine hohe Stirn kaschieren will. Ansonsten singt er Englisch. „Auch das passt zu mir. Mit Deutsch würde ich mich nicht wohlfühlen.“

So redet einer, der ganz genau weiß, dass er sich blind auf sein Gefühl verlassen kann, bei dem in der Tat alles aus dem Bauch heraus kommt. Vor allem das Singen – im direkten wie übertragenen Sinn. Früher sah sich der junge Mann nie sonderlich dazu berufen, seine Stimme zu erheben, weder trällernd in der Badewanne noch im Kanon des Schulchors. Entscheidenden Anteil an seiner aktuellen Karriere sollte jedoch seine Familie haben, in der die Muse hinter jeder Zimmerecke lauerte. Vier Brüder, die sich allesamt der Musik verschrieben hatten, die Mutter eine bekannte Schauspielerin und Sprachtherapeutin, der Vater Regisseur: Da passieren Dinge, die niemand vorhersehen kann. Vögler selbst übte Geige und Gitarre, brachte sich die ersten Griffe bei, schrieb früh Songs und nahm erst spät richtigen Unterricht, ließ sich aber nie akademisch domestizieren. Ganz am Anfang stand das Covern.

„Bei uns im Haus lief alles. Breitgefächert, von Klassik über Sting, Eric Clapton, Joe Cocker und eine Menge Jazz, mehr Instrumentalisten wie Nils Petter Molvær oder Esbjörn Svensson. Da interessierte mich vor allem: Was haben die, was ich noch nicht habe? Auch wenn Scat jetzt nicht gerade zu meinen Vorlieben gehört, sah ich meine Stimme eigentlich von Anfang an als Instrument.“

Vögler begann, mit Harmonien zu spielen und eigene Entwürfe zu kreieren. „Mir ging es darum, meine Musikalität zu entdecken. Ich bin nicht unbedingt der geduldige Typ.“

Den klassischen Frontman gibt es im Pop- und Rockbereich. Er steht im Mittelpunkt, besitzt ein Übermaß an Charisma, zieht alle Blicke auf sich, erntet den größten Applaus, während im Jazz der Sänger als Teil der Band fungiert. „So etwas liegt mir eindeutig näher“, gesteht der Vokalist. Im aktuellen Fall besteht diese aus dem Gitarristen Simon Manthey, Lukasz Flakus an Piano und Rhodes, Robert Schulenburg am Bass sowie Claus Schulte an den Drums, die noch durch die Bläser-Sektion um Stefan Gerhartz (Trompete) und Raoul Vichodil (Tenorsaxofon) sowie Kai Werner an der Hammond B3 Verstärkung erhalten.

„Manchmal passieren bei uns Dinge, die wir vorher so nicht eingeplant haben.“ Auch wenn es in der Songwriting-Struktur für Improvisationen wenig Raum gibt, so beherrscht der Geist der Individualität das gesamte Handeln der Formation, die seinen Namen trägt. Im Grunde also doch Jazz, das Gedankenmodell der absoluten künstlerischen Freiheit. Sie ist für Vögler derart wichtig geworden, dass er sogar einen lukrativen Exklusivvertrag ausschlug und stattdessen lieber bei der „Jazz thing Next Generation“ andockte.

„Ich wollte auf keinen Fall fremdgesteuert sein. Da geschehen Dinge, bei denen ich überhaupt nicht mehr gefragt werde.“ Gute Entscheidung. Denn Türen öffnen sich hier ebenfalls, wenn auch auf andere Weise. Für einen wie Vögler garantiert.

Text
Reinhard Köchl

Veröffentlicht am unter 95, Heft, Next Generation

Deutscher Jazzpreis 2024