Nels Cline

Ungeprobt

Ein Album des Gitarristen Nels Cline verspricht ein Höchstmaß an Intensität. Richteten sich die Dichte und Tiefe seiner Musik bislang immer auf ein bestimmtes Idiom des Allrounders, gelingt es ihm auf „Share The Wealth” (Blue Note/Universal), dem neuen Album seiner Nels Cline Singers, all seine Obsessionen zu vereinbaren.

Nels Cline (Foto: Arne Reimer)

Bevor der erste Ton von „Share The Wealth“ ins Ohr dringt, sticht der Albumtitel ins Auge. In den USA spitzt sich die soziale Situation noch stärker zu als in Europa, und Nels Cline lässt das nicht unberührt. Seit Jimi Hendrix wissen wir, dass die elektrische Gitarre das ideale Vehikel für sozialen Protest ist. Aber Nels Cline ist nicht Jimi Hendrix.

„Der Titel“, so Cline, „hat definitiv soziopolitische und ökonomische Konnotationen. Allerdings gab es ihn schon, als die Platte noch gar nicht aufgenommen war. Er gehörte zu einem Stück, das wir während der Session einspielen wollten. Es kam aber nicht so raus, wie ich mir das vorgestellt hatte, und schaffte es nicht aufs Album. Was blieb, war der Titel. Grundsätzlich, finde ich, sollten wir mehr über Kooperation und Großzügigkeit nachdenken. Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und der unglaubliche Wohlstand eines Bruchteils der Menschheit flößen mir schon Sorgen ein.“

Als Cline die Musik für „Share The Wealth“ einspielte, wusste er noch nicht, auf welchem Label sie erscheinen würde. Im Normalfall nimmt er ein Album zuerst auf und lizenziert es dann. Dass Don Was beschloss, die Aufnahmen auf Blue Note zu veröffentlichen, war für Cline ebenso überraschend wie erfreulich, denn „Share The Wealth“ dürfte das experimentellste Stück Musik auf Blue Note seit Sam Rivers und Cecil Taylor sein.

„Für mich ist auch Wayne Shorter sehr wichtig“, wirft Cline ein. „Seine Blue-Note-Platten ‚Supernova‘ und ‚Odyssey Of Iska‘ sind Schlüsselalben für mich, ebenso die frühen Sachen von Weather Report und Miles zur selben Zeit. Aber auch der ganze Rock ’n’ Roll von The Grateful Dead bis heute. All das ist in ‚Share The Wealth‘ eingeflossen.“

Ja, Nels Cline tanzt auf vielen Hochzeiten. Vor zwölf Jahren von der Westküste nach New York gezogen, ist er längst ein integraler Bestandteil der dortigen Avantgardeszene. Er hält aber auch noch Verbindung zur Free-Jazz-Gemeinde von Los Angeles, der sein Zwillingsbruder Alex angehört. Viele kennen Cline als Gitarristen der experimentierfreudigen Rockband Wilco oder durch zwei Gitarrengipfel mit Thurston Moore. Auf „Share The Wealth“ fasst Cline erstmals alle Facetten seiner bisherigen Arbeit zusammen. Unbeabsichtigt wurde das Album ein Selbstporträt des 64-Jährigen. Doch nichts davon war auf der zweitägigen Session geplant.

„Kompositorisch beruhen die Stücke vielmehr auf Stimmungen und Gefühlen als auf musiktheoretischen Ansätzen. Da ist rein gar nichts innovativ, alles ist nur eine Art Recycling von Dingen, die ich gehört habe und mag. Das kann genauso Canned Heat sein wie Grachan Moncour III. Sicher hat das etwas mit meiner Generation und meinem Instrument zu tun.“

Das Sextett auf „Share The Wealth“ ist die größte Besetzung, die es von den Nels Cline Singers je gab. Neben Drummer Scott Amendola, der seit dem ersten Album der Singers mit dabei ist, und dem ebenfalls schon erprobten Bassisten Trevor Dunn kommen Percussionist Cyro Baptista, Keyboarder Brian Marsella und Saxofonist Skerik hinzu. Dieses Team ist nicht leicht zusammenzuhalten, denn die Musiker kommen aus allen Teilen der USA. „Das ist sicher nicht die praktischste Idee. Wie soll ich diese Band jemals wieder zusammentrommeln? Trotzdem hoffe ich auf ein paar Gigs mit dieser Truppe. Irgendwann …“ Sagt es und lacht. Genau an der richtigen Stelle, denn was all diese Individualisten mit völlig verschiedenen musikalischen Backgrounds verbindet, ist ihr feiner, teils unterschwelliger Sinn für Humor.

Erstmals hat er mit Skerik einen Saxofonisten in der Band. „Saxofonisten wollte ich eigentlich nie in einer meiner Bands haben. Jetzt habe ich sogar zwei Bands mit Saxofon, denn zu meinem Brooklyn Quartet gehört Ingrid Laubrock. Skerik kenne ich schon sehr lange, aber wir haben nie zusammengespielt. Vor anderthalb Jahren gab es dann eine Jam in New York, bei der ich mit Billy Martin und Skerik spielte. Er denkt als Saxofonist wie ein Gitarrist, hat aber trotzdem diesen Pharoah-Sanders-Zugang und macht grandiose Sachen mit Electronics. Das gefiel mir, ohne dass ich mir weitergehende Gedanken gemacht hätte, bis Scott Amendola mir erzählte, Skerik würde meine Musik mögen. Da dachte ich mir, wir sollten es doch mal versuchen. Ich hätte vor der Studiosession gern ein paar gemeinsame Gigs gehabt, aber es sollte nicht sein. Und so bildet das Album exakt den Moment ab, in dem wir zusammentrafen. Mit dem Ergebnis bin ich sehr glücklich.“

Text
Wolf Kampmann
Foto
Arne Reimer

Veröffentlicht am unter 136, Feature, Heft

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