Billy Hart

„Mit zwei alten 78er-Platten von Charlie Parker hat alles angefangen.“

Am 10. Mai 2016 erscheint das Buch „American Jazz Heroes Volume 2“ mit Portraits in Wort und Bild von Jazz-Legenden wie Sonny Rollins, Ornette Coleman, Roy Ayers, Charles Lloyd, Jack DeJohnette, Randy Brecker, Ahmad Jamal, Archie Shepp, Roy Haynes, Bobby Hutcherson, Billy Cobham, Les McCann, Gary Burton, Carla Bley und Lee Konitz auf 240 Seiten Umfang.

In einem der Kapitel, das wir hier vorab veröffentlichen, erinnert sich Billy Hart, wie zwei 78er-Schallplatten von Charlie Parker ihn für den Jazz begeisterten und wie er über Stationen etwa bei Shirley Horn und Herbie Hancock zu einem noch heute überaus gefragten und weltweit tourenden Drummer wurde. Und er verrät, warum er ein Angebot von John Coltrane ablehnte.

Billy Hart (Foto: Arne Reimer) „Ich spring noch schnell unter die Dusche!“, lässt mich Billy Hart am Telefon wissen, während ich im Zug von New York nach Montclair, New Jersey, sitze. Es ist schwierig, Billy Hart daheim zu erwischen, da er ständig Konzerte spielt oder unterrichtet. An diesem Tag ist es nicht anders: Letzte Nacht ist er von einer Tour mit Johannes Enders aus Deutschland zurückgekommen, am nächsten Morgen fliegt er nach Oberlin, Ohio, wo er am Konservatorium unterrichtet. Unseren Termin hat er auf neun Uhr festgelegt.   Noch mit einem Handtuch in der Hand, öffnet er die Tür. In seinem Flur hängen alte Konzertplakate und Erinnerungsfotos der ganzen Familie. Seine Kinder Chris und Imke sind inzwischen ausgezogen.

„Ich liebe meine Familie, aber ich bin leider nie hier. Das Schlimmste ist, wenn sie nichts sagen. Sie haben ihren Umgang damit gefunden. Mir wäre es lieber, sie würden sich beschweren. Egal, wo ich auf der Welt gerade Konzerte spiele, ich rufe sie jeden Tag an. Meine Tochter ist gerade 18geworden und fängt an zu studieren. Heute bin ich ganz alleine hier, weil meine Frau für ein paar Tage in Philadelphia arbeitet. Du bist der Einzige, der mir die Augentropfen geben kann, bevor du nachher wieder gehst. Auf meinem rechten Auge kann ich wegen meiner Diabetes sowieso kaum noch sehen.“

Hart führt mich in den Keller, der bis auf den großen Billardtisch ein kompletter Musikraum ist: In der Mitte stehen zwei Schlagzeuge, sodass er seine privaten Schüler unterrichten kann. An den Regalen mit CDs lehnen weitere Cymbals, der kleine Schreibtisch mit dem Computer wirkt eher nebensächlich, stattdessen dominiert eine ganze Regalwand mit alten Schallplatten den Raum. Über 700 Aufnahmen hat er bereits selbst eingespielt.

„Mit zwei alten 78er-Platten von Charlie Parker hat alles angefangen. Über meine Großmutter lernte ich den Tenorsaxofonisten Roger Buck Hill kennen, der mir ‚Charlie Parker With Strings‘ schenkte und eine weitere 78er, auf der Parker ‚Star Eyes‘ und ‚Au Privave‘ spielte. Das hat mich vollkommen umgehauen, und ich habe nur noch zu den Platten geübt. Ich hatte immer improvisierte Musik spielen wollen. Die Soli von Parker konnte ich alle mitsingen. Buck hat mich engagiert, da war ich gerade 17. Immer am Wochenende spielten wir in dem Club Abart’s – neun Monate lang. Am Bass war Butch Warren, mit dem ich zusammen zur Highschool gegangen bin. Buck Hill konnte nicht von seiner Musik leben und arbeitete bei der Post. Später habe ich ihm als Dank seine erste Recording-Session unter seinem Namen bei SteepleChase vermittelt– da war er bereits 50 Jahre alt.“

Während Billy Hart in seiner Sammlung die LP sucht, erzählt er weiter.

„Buck kannte alle Musiker in Washington. Durch ihn habe ich Shirley Horn kennengelernt. Es gab in Washington wirklich viele gute Schlagzeuger, und in Shirleys Trio spielte Harry Saunders. Aber sie erkannte mein Talent und sagte zu mir: ‚O.k., es wird Zeit, dass du mit mir spielst.‘“

Billy Hart (Foto: Arne Reimer) Hart ging mit Horn auf Tour und spielte 1961 auch im Village Vanguard in New York.

„Nach uns spielte das Quintett von Miles Davis mit Hank Mobley, Wynton Kelly, Paul Chambers und Jimmy Cobb. Ganz hinten im Publikum standen Herbie Hancock, Freddie Hubbard und Joe Henderson. Sie waren alle sehr jung, zwischen 20 und 23 Jahren alt, und sie kannten sich nicht. Aber ich kannte Joe, weil er während seiner Zeit bei der Army in Washington stationiert war und wir bei einigen Sessions zusammengespielt hatten. Und Herbie hatte ich auf der Platte ‚Royal Flush‘ von Donald Byrd gehört, bei der auch Butch Warren mitspielte. Ich ging zu Herbie rüber und sagte ihm, wie sehr mich sein Pianospiel begeistert habe. Er war überrascht, dass ich die Platte überhaupt kannte, und bedankte sich für das Kompliment. Dann sagte ich ihm noch, dass ich mir gut vorstellen könne, dass er der nächste Pianist von Miles Davis wird. Da hat er mich nur ganz unsicher angesehen und gefragt: ‚Meinst du das wirklich?‘ Nach dem Konzert kam Miles zu uns rüber und wollte sich mit mir über die Boxerszene in Washington unterhalten, aber davon hatte ich keine Ahnung. Enttäuscht und mit einem Kopfschütteln drehte er sich um und ging wieder. Freddie sagte nur: ‚Punch that motherfucker.‘“

Billy Hart schmunzelt heute noch über den Vorfall.

„Aber zurück zu Shirley: Sie hatte zwar nicht so eine großartige Technik wie Art Tatum, aber ihr Konzept war eine Kombination aus Ahmad Jamal und Oscar Peterson. Ihre Art zu spielen hat mehr Pianisten beeinflusst, als man vielleicht denkt. Natürlich gab es auch Bill Evans, aber der klang ganz anders als Shirley. Hör dir mal das Intro von Herbie an, das er bei ‚My Funny Valentine‘ mit Miles live im Lincoln Center spielt. Das kommt eindeutig von Shirley! Miles hat sie immer verehrt, aber Shirley war damals unbekannt und hatte Angst, sich nicht in der Jazzwelt durchsetzen zu können. Sie war von der Plattenindustrie so sehr enttäuscht, dass sie zu spielen aufhörte. Stattdessen kümmerte sie sich um ihr Kind, und ihr Mann schaffte mit seiner Arbeit das Geld heran. Ich war es, der ihr Comeback 1978 in die Wege geleitet hat – als Dank, weil sie sich in meinen frühen Jahren um mich gekümmert hat.“

Sein Telefon klingelt. Es ist der Trompeter David Weiss, in dessen Band „The Cookers“ er spielt. Nach dem Telefonat erklärt Hart:

„Ich bekomme ständig Anrufe von Musikern, die mit mir spielen wollen, und ich habe Probleme damit, ihnen abzusagen, denn meistens ist die Musik so interessant, dass ich unbedingt mitspielen will. Weil ich nicht ‚Nein‘ sagen kann, gehe ich oft lieber gar nicht erst ans Telefon.“

1964 erhielt Billy Hart zur selben Zeit einen Anruf von James Brown und von Jimmy Smith. Beide wollten den jungen Schlagzeuger in ihrer Band dabeihaben. Weil Hart bereits früh mit Musikern der James-Brown-Band gespielt hatte und er mehr über Jazztradition und Bebop lernen wollte, entschied er sich für Jimmy Smith, mit dem er über zwei Jahre spielte, bevor er von Wes Montgomery engagiert wurde. 1965 fragte ihn John Coltrane, ob er zusammen mit Rashied Ali in seiner Gruppe spielen wolle.

„John war unter anderem deshalb an mir interessiert, weil er selbst in der ersten Band von Jimmy Smith gespielt hatte. Elvin Jones hatte Tranes Quartett verlassen, und nun wollte John ihn mit zwei Schlagzeugern ersetzen: Ein Drummer sollte etwas freier spielen und der andere so wie Elvin swingen können. John Coltrane ist bis heute meine größte Inspiration. All seinen Platten bin ich immer gefolgt, egal in welche Richtung er sich entwickelte. Ich hatte so viel Respekt vor ihm und seiner Musik, dass ich sein Angebot ablehnte. Für seine musikalische Vision sah ich mich nicht als qualifiziert genug. Dabei hätte ich mich von ihm ganz einfach auf die Reise mitnehmen lassen sollen, um die Dinge aus seiner Perspektive zu betrachten. Außerdem dachte ich, dass ich später immer noch mit Trane spielen könnte. Niemand hätte gedacht, dass er mit gerade mal 40 Jahren sterben würde.“

Billy Hart Drums (Foto: Arne Reimer)
In der hintersten Ecke des Raumes steht ein altes, verstaubtes Farbfoto, auf dem Billy Hart in der Mwandishi-Band von Herbie Hancock zu sehen ist, in der er von 1969 bis 1973 spielte.

„Von all den Formationen, in denen ich bis heute gespielt habe, ist dies vielleicht meine Lieblingsband. Die Entwicklung dieser Gruppe von Herbie ist eine lange Geschichte, die ich nur kurz erzählen kann – da ist schon ein ganzes Buch drüber geschrieben worden!“

Hart erläutert die Entwicklung der Band:

„Herbies Schlagzeuger für ‚Speak Like A Child‘ war Mickey Roker, der dann aber in Dizzys Band spielte. Dann kam Pete LaRoca, der jedoch immer zu spät zu den Proben kam. Deshalb folgte Albert ‚Tootie‘ Heath, der auf ‚The Prisoner‘ zu hören ist, und erst dann kam ich. Empfohlen hatte mich Buster Williams, der mit Herbie in Miles‘ Band gespielt hatte. Zunächst waren Joe Henderson und Woody Shaw in der Band, die dann ihre eigene Gruppe starteten und durch Bennie Maupin und Eddie Henderson ersetzt wurden. Herbie hat damals viel mit dem elektrischen Piano ausprobiert. Er war ein wirklicher Innovator, musikalisch und technisch, weshalb jeder ihn hören wollte. Zu einem Konzert im Village Vanguard kamen all die Bandmitglieder von Weather Report, vom Mahavishnu Orchestra oder von Return to Forever. Miles kam natürlich auch vorbei. Nach dem Konzert war ich so erschöpft vom Spielen, dass ich kaum sehen konnte und mir erst die Augen wischen musste, deshalb hatte ich nicht gemerkt, dass Miles das ganze Konzert direkt neben dem Schlagzeug gesessen hatte. Erst als er anfing zu reden, bemerkte ich ihn. Ihm gefiel, was ich gespielt hatte. Er redete über Musik und erklärte mir den Unterschied, wie man vor dem Beat, auf dem Beat oder nach dem Beat spielen kann, wovon ich bis dahin noch nie gehört hatte. Er verabschiedete sich mit den Worten: ‚Wenn ich das nächste Mal einen Drummer brauche, rufe ich dich an.‘“

Wieder klingelt das Telefon. Diesmal ist es seine Frau. „Alles o. k. bei dir? Ich rufe dich gleich zurück.“ Billy Hart erzählt noch, dass Miles Davis ihn ein paar Monate später tatsächlich anrief und ins Studio bestellte.

„Wir spielten gerade ein paar Tage mit dem Sextett von Herbie in Philadelphia. Zum Glück hatte ich ein zweites Drum-Set in New York. Ich fuhr also von Philadelphia nach New York, holte mein Schlagzeug und fuhr dann sofort ins Studio. Miles hatte keine Noten, stattdessen fragte er mich ‚Kennst du irgendwelche James-Brown-Beats?‘ Ich sagte: ‚Ja, klar.‘ Wir spielten ein paar Wochen später noch ein paar Tage im Studio, und die Aufnahmen wurden dann auf seinem Album ‚On The Corner‘ veröffentlicht. Herbie war auch bei der Session dabei, kam zu mir rüber und fragte mich: ‚Was hast du denn da gerade gespielt?‘ Also spielte ich es ihm ganz langsam vor. ‚Hier, ich zeige es dir mal.‘“

Billy Hart setzt sich an sein Schlagzeug und spielt den Rhythmus, wieder ganz langsam.

„Nur aus diesem Rhythmus heraus hat Herbie dann ‚Hidden Shadows‘ komponiert. Nach der Recording-Session wollte mich Miles fest in seiner Band haben, aber ich wollte Herbie nicht verlassen. Als sich kurz danach Herbies Band auflöste, hatte Miles bereits Al Foster in seiner Gruppe.“

Noch einmal klingelt sein Telefon. Diesmal nimmt er den Anruf nicht an:

„Das ist ein Musiker, der wissen will, ob ich in ein paar Tagen mit ihm in New York spielen kann. Aber ich fliege ja morgen früh los zum Unterricht. Jetzt muss ich dringend meinen Koffer auspacken und wieder neu packen.“

Wir gehen die Treppe hoch in seine Küche. Billy Hart setzt sich hin, lehnt seinen Kopf zurück und gibt mir die kleine Flasche mit den Augentropfen:

„Drei Tropfen.“

Text + Fotos Arne Reimer

Veröffentlicht am unter 113, Feature, Heft

Mr. M's Jazz Club Festival 2024