Ben Wendel

Zwischen Likes und Followern

Noch einer, der geflüchtet ist. Möglichst weit weg – dorthin, wo es scheinbar sicher ist. Als Ben Wendel Anfang März von New York nach Hawaii flog, da wollte er eigentlich Urlaub machen. Doch dann kam Corona, und aus dem Refugium wurde ein viermonatiger Lebensmittelpunkt.

Ben Wendel (Foto: Shervin Lainez)

Viel Zeit für den Saxofonisten, um über sich und seine Rolle in der Kultur nachzudenken. Die passende Musik hatte er bereits zuvor für sein neues Album aufgenommen. Tausche Hölle gegen Himmel. Knapp 1.000 Menschen sind – Stand Mitte Juli – auf Hawaii infiziert, eine Petitesse im Vergleich zu den 3,1 Millionen in den USA. Es hätte schlimmer kommen können, konstatiert der Wahlhawaiianer, der sich mit seiner tschechischen Frau spontan in einem Haus eingemietet hat und dort wartet, bis sich der Sturm in New York verzogen hat.

Eigentlich stammt Ben Wendel aus dem kanadischen Vancouver, wuchs in Santa Monica auf und ging nach der High School in den Big Apple, um dort an der Eastman School of Music zu studieren. Aber vor dem Virus könne man nicht einfach davonlaufen oder es ignorieren. Wendel weiß, dass sich diese Pandemie in das Portfolio der Herausforderungen einreihen wird, mit denen sich die Menschheit auseinandersetzen muss, um zu überleben. „Wir brauchen Strategien, jeder Einzelne für sich, die wir dann alle zu einem Masterplan zusammenführen müssen.“

So denkt einer der interessantesten und reflektierendsten Saxofonisten der Jetztzeit, ein Musiker, dessen Horn über eine ebenso schwungvolle wie charakterstarke musikalische Signatur verfügt. Der 44-Jährige hat es in der Tat geschafft, der zeitgenössischen Tenorsaxofonsprache eine neue Farbe hinzuzufügen. Unter denjenigen, die sich von Michael Brecker, Chris Potter und Tim Garland inspirieren ließen, gilt Ben Wendel inzwischen als Meister des zauberhaften Ausdrucks und der energiegeladenen Poesie.

Irgendwie wundert es niemanden, dass Wendel seinem Selbstverständnis als Künstler mithilfe unterschiedlichster Ansätze auf den Grund zu gehen versucht. Neben seinem Hauptinstrument spielt er Piano und Fagott. Mit der Band Kneebody, einem hippen Konglomerat aus Electro, Pop, Punk, Rock, HipHop und Jazz, sorgt der Saxofonist seit 2005 für Aufsehen, das gemeinsame Album „Twelve Songs Of Charles Ives“ mit dem deutschen Sänger Theo Bleckmann wurde für einen Grammy nominiert. Auch die Liste seiner Kollaborationen gibt Rückschlüsse auf die multiplen Interessen Ben Wendels. Hier finden sich neben Ignacio Berroa, Tigran Hamasyan, Antonio Sánchez, Eric Harland, Joshua Redman, Mark Turner und Taylor Eigsti auch Namen wie Prince, Snoop Dogg, des Dirigenten Kent Nagano oder des Electromusikers Daedalus.

Für sein aktuelles Werk „High Art“ (Edition/Membran) umgibt er sich mit nicht minder ambitionierten Freunden wie den Pianisten Shai Maestro und Gerald Clayton, dem jungen Gesangsgeheimtipp Michael Mayo, dem Bassisten Joe Sanders und dem Drummer Nate Wood. Damit agiert Wendel in einer zunehmend oberflächlichen, kalten Zeit bewusst antizyklisch und setzt einen persönlichen, warmen Kontrapunkt. „Das versuche ich eigentlich schon immer“, räumt der Saxofonist ein. „Denn ich möchte unbedingt authentisch bleiben.“ Jeder Song sei eine Frage, die er sich selbst stelle. „More“ beispielsweise beschreibt die Gefahren einer Überdosis Technologie und den daraus resultierenden Perspektivverlust, während „High Heart“ von der Sehnsucht mancher Menschen handelt, über die neuen Medien mit anderen in Kontakt zu treten, aber auch von den Gefahren, sich dabei zu isolieren und abzuschneiden.

„Das digitale Zeitalter hat einen tief greifenden Paradigmenwechsel ausgelöst. Was bedeutet es überhaupt noch, Künstler zu sein, sich verwirklichen zu wollen, dies aber davon abhängig zu machen, wie viele Likes man bekommt, wie viele Follower man hat oder wie oft etwas geteilt wird? Dinge mit 1.000 Likes sind gut, während man solche mit zehn Likes vergessen kann. Diese neue Form der Demokratie killt jede Kultur.“

Deshalb versteht er „High Art“ als eine Art Leuchtturmprojekt, mit dem sich Künstler einen Weg durch all den Lärm dieser Zeit bahnen, ohne auf Likes schielen zu müssen – und in dem einmal mehr seine herausragenden kompositorischen Fähigkeiten hervorstechen wie schon beim „Seasons“-Projekt von 2018.

Ben Wendel will Hawaii so bald wie möglich verlassen. Zuerst Richtung Los Angeles, wo ein Teil seiner Familie lebt, dort die Lage checken und dann irgendwann nach New York zurück. Vielleicht aber auch mal nach Europa. „Ich könnte mir vorstellen, überall zu arbeiten, wo man mir keine Fesseln auferlegt.“ Denn vor ihm liegt eine vielversprechende Karriere – der man unbedingt folgen sollte.

Text
Reinhard Köchl
Foto
Shervin Lainez

Veröffentlicht am unter 136, Feature, Heft

jazzfuel