Radar

Ohren auf Empfang

Jazz thing Next Generation Vol. 41

In New York leben und in Berlin eine Combo am Laufen halten, die gerade als neue Perle die Kette der „Jazz thing Next Generation“ bereichert: Geht das überhaupt? Für Timo Vollbrecht und seine Freunde von Radar alles kein Problem. Die vier schöpfen aus den Quellen der beiden musikalischsten Städte dieses Planeten. Und schließlich gibt es ja auch noch Internet und Billigflieger.

Radar - In Sight (Cover)Der Strand ist groß, riesengroß. Genauer gesagt 357.021 Quadratkilometer, nicht weniger als die Gesamtfläche Deutschlands. Eigentlich genug Platz, um für die illustre „Jazz thing Next Generation“-Reihe immer wieder neue Perlen zu entdecken. In der Tat wurden unsere Talentscouts bei ihrer rastlosen Suche in den zurückliegenden Jahren vor allem in Berlin, München, Hamburg, Köln, Quickborn oder Weilheim fündig, gelegentlich wilderten sie in Wien oder in den Schweizer Alpen. Mittlerweile muss man das Radar allerdings schon bis in den Big Apple ausrichten, um die wirklich interessanten, aber noch weitgehend unbekannten Acts an die Strippe zu bekommen. „Ja klar, New York! Warum nicht?“, fragt Timo Vollbrecht unbekümmert auf das unvermeidliche „Warum“ zurück, während draußen vor seinem Appartement in Harlem gerade wieder eine dieser typischen New Yorker Polizeisirenen aufheult und anschaulich belegt, dass der Angerufene tatsächlich nicht in Kümmernitztal in der brandenburgischen Provinz hockt, sondern dort, wo es sich augenscheinlich immer noch lohnt, als ambitionierter Jazzmusiker seine Zelte aufzuschlagen.

Wobei Vollbrecht längst zur Kategorie der Continent-Hopper zählt, jenen flexiblen Musikern, für die die Welt längst zum globalen Dorf geworden ist und Berlin-Mitte mindestens genauso viel zählt wie Downtown Manhattan. „Kann man eigentlich gar nicht sagen, was jetzt spannender ist“, wundert sich der 26-Jährige selbst. In New York, wo Timo nach seiner Zeit im Bundesjazzorchester, in Berlin und Barcelona seit 2010 an der New York University (NYU) mit Hilfe eines Fulbright-Stipendiums sowie der Stiftung des deutschen Volkes zur Förderung Begabter studiert und bald seinen Master Degree ablegen will, sei vor allem die Dichte und Qualität der Musiker „super“. Seine Saxofonlehrer dort heißen Mark Turner und Joe Lovano, mit Kenny Werner, Drew Gress, Brian Lynch, Bill Dobbnis oder Brad Shepik stand er schon gemeinsam in namhaften Clubs wie dem Birdland oder Dizzy’s Coca Cola auf der Bühne. Weites Jazz-Land. Alles sei hier „unfassbar“, die Stadt „megainteressant“. Zwischenzeitlich hat der aus dem kleinen Stadthagen bei Hannover stammende Reeds-Player sogar als Dozent an der NYU angeheuert. „Im Moment geht es bis Mai. Ob ich dann ein weiteres Jahr dranhänge, entscheidet sich noch. Aber eigentlich möchte ich schon wieder zurück nach Berlin. Denn dort bildet sich im Vergleich zu anderen Städten ein ganz eigenes musikalisches Profil heraus, so eine Art Vibe. Etwas, das es nirgendwo anders gibt. Das finde ich total gut!“

Die paritätisch verteilte Liebe behindert ihn jedoch keineswegs in seinem Kreativdrang. Schließlich gibt es ja das Internet, Skype, Facebook und die Transatlantik-Passage per Billigflieger, die er gleich mehrmals im Jahr nutzt und die den Abstand auf wenige Bytes oder Stunden schrumpfen lassen. „Früher war das alles für mich so weit weg, eine völlig andere Welt. Aber jetzt ist es kein Problem. Ich bin da flexibel.“ In der deutschen Hauptstadt hat Timo Vollbrecht gleich einige heiße Pferde am Start: die Bands MSV Brecht, Gerry getz Chet und natürlich Radar, wobei Letztere jetzt als Prototyp der „Jazz thing Next Generation“ automatisch in den Fokus einer größeren Öffentlichkeit rückt. Ein vitales, quirliges, vor Ideen beinahe überlaufendes Quartett, in dem sich um den New-York-Berliner noch Lorenz Kellhuber (Piano), Tim Kleinsorge (Bass) und Moritz Baumgärtner (Drums) scharen. Ihre Musik sei „extremely loose“ heißt es kryptisch im Presstext. „Und natürlich Berlin beeinflusst“, schiebt Timo von Harlem aus nach.

RadarRadar: Das suggeriert keineswegs, unter selbigem hindurchzufliegen, wie ein Tarnkappenbomber unsichtbar zu bleiben, sondern vielmehr allzeit auf Empfang gehen zu können. Acht gespitzte Ohren begeben sich auf eine gemeinsame Reise, offen für das Ungewisse. Ein Ansatz, der vor allem zwei in Berlin ansässige Mikrofonhersteller überzeugte. Diese finanzierten die Aufnahme des Erstlings „In Sight“ (Double Moon/Challenge), für den mit Johannes Enders gar einer der führenden Köpfe der deutschen Jazzszene seine einzigartige Tenorsax-Stimme beisteuerte. Dabei erstarrten die Jungs nicht etwa in Ehrfurcht, sondern assimilierten Enders einfach, fädelten ihn ins Bandgeflecht ein. Eine erstaunlich abgeklärte und dennoch völlig unkomplizierte Form der Interaktion.

Vollbrecht, Kellhuber, Baumgärtner und Kleinsorge lernten einander 2009 während ihres Studiums am Jazz Institut Berlin kennen und konzertieren seither unter anderem für den Verein „Yehudi Menuhin: live music now Berlin aktiv“ in Behinderteneinrichtungen oder Gefängnissen. Statt ritualisierter Basisdemokratie dominiert bei ihnen eher Pragmatismus. „Es ist ’ne Utopie, zu glauben, dass alle immer das Gleiche tun müssen“, erlaubt der Saxofonist einen Blick ins Innere des Radars, „es macht viel mehr Sinn, jeden dort einzusetzen, wo seine Qualitäten liegen. Der eine kann gut telefonieren, also ruft er die Veranstalter an, dem anderen liegt eben das Organisieren. Wir sind gerade dabei, das herauszufinden.“ Timo selbst hat neben der Aufgabe des Hauptkomponisten den Job des PR-Menschen inne. Trommeln für eine außergewöhnliche Combo. Was auch mit Improvisation zu tun hat.

Auf seiner Homepage www.timovollbrecht.de nennt er sich bereits „Improviser“ und nicht etwa „Musician“, „Composer“ oder „Educator“. Warum auch? „Es bringt das, was ich tue, auf den Punkt. Das bezieht sich aufs Spielen, aufs Komponieren, schlicht auf das ?Leben. Auf Tourneen oder in einem fremden Land muss man immer improvisieren.“ Und bei Radar gehört es sowieso zur Tagesordnung. Keine Frage: Er und seine Kollegen können das!

Text
Reinhard Köchl

Veröffentlicht am unter 92, Heft, Next Generation

Deutscher Jazzpreis 2024