Aldo Romano

Offene Rechnung

Bei jedem Menschen gibt es Dinge, die zeitlebens an einem nagen. Verpasste Chancen und die ewig bohrende Frage: Was wäre gewesen, wenn…? Auch Aldo Romano musste fast ein halbes Jahrhundert warten, bevor er eine offene Rechnung begleichen konnte. Adressat: sein Mentor Don Cherry. Mit der Weisheit des Alters sowie einer klaren Sicht auf Vergangenheit und Gegenwart baut der Drummer diesem nun ein klingendes Denkmal.

Aldo RomanoEs schmerzt noch immer, selbst 45 Jahre danach. Als Don Cherry an Heiligabend 1965 in Rudy Van Gelders Studio in Englewood Cliffs in New Jersey sein legendäres Blue-Note-Album „Complete Communion“ einspielte, da fehlte ausgerechnet er.

„Es wäre auch meine Session gewesen“, findet Aldo Romano, und seine Stimme klingt ein wenig traurig. „Eigentlich hätte ich dabei sein müssen, denn Don Cherry, Gato Barbieri, Henry Grimes und ich hatten das Material vorher einstudiert und waren damit einige Male aufgetreten. Doch eines Tages war Don spurlos verschwunden. Einfach weg! Ich saß in meinem Hotelzimmer in New York herum und wartete, einen Monat lang. Dann ging mir das Geld aus. Ich musste wieder zurück nach Europa, und er verpflichtete Ed Blackwell.“

Aldo Romano ist dennoch berühmt geworden. Eine Ikone am Drumset, ein Wanderer zwischen den Welten – geografisch wie kulturell. Er, der draufgängerische Italiener, der seit Ende der 1940er-Jahre in Paris lebt, aber immer noch den Pass seines Geburtslandes besitzt, traute sich als einer der Ersten, in der Alten Welt offene Bühnenlabore für Freejazz und später Fusion zu eröffnen. Er feierte sensationelle Publikumserfolge mit Joachim Kühn, Jasper van’t Hofs Pork Pie sowie dem Trio Carnet de Routes, entdeckte Michel Petrucciani und gewann 2004 den Jazzpar Prize. Eine Säule der Jazzgeschichte. Der europäischen wohlgemerkt.

Zu gerne hätte sich Aldo auch jenseits des Atlantiks in den Annalen verewigt. Die kreative Atmosphäre im Big Apple, die inspirierende Gesellschaft der dort lebenden Musiker faszinierten ihn schon immer. Steve Lacy, Carla Bley, Roswell Rudd und sogar der junge Keith Jarrett schätzten sein klangsinniges, assoziatives Präzisionsspiel am Schlagzeug. Und dann war da vor allem Don Cherry. Der Pocket-Trompeter und Kornettist, der dem jungen Franko-Italiener die musikalischen Lektionen seines Lebens erteilte.

„Zum ersten Mal sind wir uns im März 1965 in einem kleinen Café namens La Vieille Grille in Paris begegnet, wo er mich spontan einlud, bei ihm auf der Bühne einzusteigen. Ein paar Tage später rief er mich an und fragte, ob ich nicht Lust hätte, sein Drummer zu werden. Die Proben fanden im Apartment von Jean-François Jenny-Clark statt, wo auch Gato Barbieri und der deutsche Vibrafonist Karl Berger dabei waren. Von dem Moment an gehörte ich zu seiner Band. Bei Don begriff ich, dass man sich nur dann wirklich weiterentwickeln kann, wenn man sämtliche stilistischen Barrieren niederreißt. Er war total offen, nach allen Seiten. Wir konnten in einem Stück brasilianische Samba, im nächsten Freejazz, dann Folklore oder Bebop spielen. Begrenzen, so sagte er, könne man sich allenfalls selbst. Wir spielten unter anderem beim Filmfestival in Pesaro vor Regisseuren wie Bernardo Bertolucci oder Jean-Luc Godard. Aber was heißt schon ‚Ich gehörte dazu‘? Don war mal hier und mal da, mal in Schweden, dann wieder in den USA oder auch nirgendwo. Es war fast nicht möglich zu wissen, wo er gerade steckte, geschweige denn, ihm zu folgen.“

Ein Nomade, faszinierend, aber auch unberechenbar. In vielerlei Hinsicht. Aldo Romano erinnert sich noch genau an die zahlreichen Drogenexzesse des Urvaters der World Music.

„Wir lebten ständig in der Angst, dass er eines Tages tot aufgefunden würde. An einem Tag war er total glücklich und fröhlich, am nächsten Tag völlig high. Schuld waren Heroin und das ganze Zeug. Ich kannte das von Chet Baker. Manchmal konnte er nicht einmal mehr seine Trompete halten.“

Kein Vergleich zur heutigen Musikergeneration, findet der smarte Südländer mit dem spärlichen Haaransatz, dem man kaum ansieht, dass er am 16. Januar seinen 70. Geburtstag feierte.

„Die nehmen nichts, die trinken nichts, die ernähren sich gesund, gehen früh zu Bett, stehen früh auf und machen Sport. Fast wie Beamte. Die denken nur an ihre Karriere. Manchmal sind sie mir fast ein wenig zu clean“, provoziert Aldo verschmitzt.

Ob das auch für seine beiden jungen Mitstreiter Fabrizio Bosso (Trompete) und Géraldine Laurent (Saxofon) zutrifft, lässt er offen. Mit den beiden sowie seinem alten Freund aus wilden Free- und Experimentiertagen, dem Bassisten Henri Texier, schließt der Drummer nun die seit 1965 langsam vor sich hinblutende Wunde mit einer bewegenden Hommage an den Mentor: „Complete Communion To Don Cherry“ (Dreyfus/Soulfood). Seine ganz persönliche „Communion“ mit allen Songs der damaligen Weihnachtssession, an der er nicht teilnehmen konnte, aber auch mit „Jayne“, „The Blessing“ und „When Will The Blues Leave“ von Ornette Coleman sowie der Eigenkomposition „Gush!“. Ein überfälliger Befreiungsschlag. Warum erst jetzt?

„Ich hatte die Sache ständig im Kopf, wollte zunächst alles aber so belassen, wie es bei mir als Erinnerung abgespeichert war. Bloß keine Veränderungen! Jeden Eingriff hätte ich früher als Sakrileg empfunden. Als jedoch vor einigen Jahren unser Konzertmitschnitt aus dem Café Montmartre in Kopenhagen vom März 1966 auf CD herauskam, da dachte ich mir, dass nun vielleicht doch die Zeit gekommen sei, um diese großartige Musik aufzunehmen.“

Die Songs seien ungezügelt, fröhlich, emotional und optimistisch, schwärmt Aldo Romano. Ein Relikt – nicht aus der guten, alten, sondern tatsächlich aus einer besseren, einer freieren Zeit. Als die Musiker noch keine Angst vor Abenteuern hatten, ihr Leben im Hier und Jetzt genossen, mit allen Konsequenzen, und sich keinen Deut um die Zukunft scheren. „Ich sehe das noch heute so!“, sagt Romano. Sein trompetender Landsmann Enrico Rava stammt auch aus dieser Generation. Another Italian in New York, ebenso wagemutig, populär und weise wie er. „Mit ihm gehe ich demnächst ins Studio. Mann, wird das ein echter Spaß!“, freut sich Romano. Und der große Kreis beginnt sich langsam zu schließen.

Text
Reinghard Köchl
Foto
Arne Reimer

Veröffentlicht am unter 87, Feature, Heft

Deutscher Jazzpreis 2024