Überschätzt?

Pit HuberKurz vor Weihnachten nahm ich an einer Umfrage teil: „Wer sind die am meisten überschätzten Jazzmusiker der Gegenwart?“ Da will man ja erst mal protestieren: Jazz wird doch grundsätzlich UNTERschätzt! Welcher Normaldeutsche kennt schon Hank Jones, Archie Shepp oder Don Byron? Einer meiner Stiefväter, immerhin Jazzfan, erzählte mal, wie in einer TV-Show in den Siebzigern einer der größten lebenden Gitarristen angekündigt wurde und er mindestens Joe Pass erwartete – und dann kam Ricky King mit einem seiner Gitarren-Welthits, „Telstar“ oder „Bilitis“. Oder man denke an die dumpfen Hardrock-Saitenquäler, die gerade mal zwei Harmonien draufhaben, aber millionenschwere Endorser-Verträge in der Tasche. Davon können Jazzgitarristen nur träumen.
 
Die Frage ist also: Inwiefern überschätzt – und von wem? Die Amerikaner kennen den Till Brönner doch gar nicht. Nun, auf den Spitzenplätzen der Umfrage landeten die Hätschelkinder hiesiger Medien und Jazz-Charts – allesamt ordentliche Musiker, nur eben behaftet mit dem Stigma einer öffentlichen Aufmerksamkeit, die ihre Kollegen genauso oder mehr verdient hätten. Wirfst du deinem Nächsten sein Glück vor, nennt man das in anderen Lebensbereichen wohl Neid und Missgunst. Zum Glück sind solche Gefühle der Jazzwelt fremd.
 
Ungeklärt blieb die Frage: Wen überschätzen die Fachleute? Wen überschätzen sie womöglich aus teuer gewordener Tradition und falscher Verehrung und allzu guter Absicht? Zum Beispiel: Wir alle lieben die Afroamerikaner, ihre Coolness UND ihre Wärme, ihre Ehrlichkeit UND ihre Aufschneiderei. Aber vielleicht sollten wir doch mal ein paar Säulenheilige von ihrem marmornen Sockel stoßen, ohne sie deswegen an die Kultursnobs zu verraten. Wie viele Jahrhunderte ist es eigentlich her, dass Sonny Rollins eine gute Platte gemacht hat? Konnte Cecil Taylor überhaupt jemals Klavier spielen? Und wie oft brachte Ron Carter seine Mitmusiker schon aus dem Takt?
 
Pit Huber

Veröffentlicht am unter Blog thing

Deutscher Jazzpreis 2024

3 Kommentare zu „Überschätzt?“

  1. Pit,

    wer hat denn behauptet, dass Ron Carter ihn (oder sie) aus dem Takt gebracht hat….?

    (Klar: Er ist kein Buster Williams)

  2. Das mit der letzten guten Sonny Rollins Platte ist auf jeden Fall ein guter Ansatzpunkt, geht es bei Herrn Rollins doch wohl seit langem eher um seine solistische Einzelleistung, denn um einen unverkennbaren Ensemble-Sound. Cecil Taylor aber die Fähigkeit des Klavierspielens absprechen zu wollen, na ja, na ja Herr Huber, da brennt dem geneigten Jazzfreund doch glatt das Pfeifchen durch, oder nicht ?

    gruss hering cerin

  3. warum wurde denn der selbsternannte könig der gitarre und zeuge jehovas ricky king von den medien so hochgehoben obwohl er nicht mehr als ein durchschnittlicher unterhaltungsgitarrist ist? ich frage mich bis heute wie man so einen schleimer so hochheben kann.