Tamta Dama

Uwe Wiedenstried (Illustration)„Viele Musiker improvisieren heutzutage nur über das Harmoniegerüst der Musikstücke. Ein Musiker sollte die Worte zu den Songs kennen, die er spielt.“ Dieses Zitat stammt von Lester Young. Man kann nur beten, dass er – wie so oft – betrunken war, als er das sagte. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass er „gray boys“, wie er Weiße nannte, meist nicht mochte, „gray boys“ von der Presse schon gar nicht, die nahm er oft auf die Schippe oder ließ sie mit Nonsens-Antworten wie „Ding-Dong“ oder „Doom“ abblitzen.

Völlig ernst gemeint hat er sein Statement hoffentlich nicht. Wer wollte schon behaupten, dass Zeilen wie „Day will break and you’ll awake and start to bake a sugar cake“ aus „Tea For Two“ oder „All the birdies go tweet, tweet, tweet, when my sugar walks down the street“ einem Künstler zu Quellen der Inspiration werden.

Gut, es gibt Ausnahmen: Der Text zu Hoagy Carmichaels „Stardust“ ist ein Balanceakt auf dem schmalen Hochseil zwischen Kitsch und echter Poesie. Cole Porters Texte sind oft grottenblöd, ebenso oft aber von charmanter, witziger, geistreicher Anzüglichkeit. Vor Johnny Mercer kann man nur das Haupt beugen, weil ihm zu „Moon River“ das Wortspiel „my huckleberry friend“ eingefallen ist. Dennoch: In der Regel ist es ein Segen, kein native speaker zu sein. Denn auch wenn man des Englischen einigermaßen mächtig ist, kann man dem kleinen Dolmetscher im Hirn dann und wann freigeben und nur dem Klang der Stimme eines Mel Tormé, einer Billie Holiday oder Sarah Vaughan lauschen, ohne dass einem die debilen Texte den Genuss verderben. Weitere Beispiele erübrigen sich, denn dies war bereits letzte Woche Thema bei blog thing.

Als ich vor gut 30 Jahren begann, mich für Jazz zu interessieren, machte ich eine Entdeckung, die mich damals noch erstaunte: Von den vielen rein instrumentalen Nummern, die ich tagein, tagaus in brüllender Lautstärke hörte, um mein Elternhaus und die Nachbarschaft zu missionieren, konnte meine Mutter einige mitsingen. Zu „Linger Awhile“, einer der besten Aufnahmen Lester Youngs aus jener Phase, als er mit dem Bebop flirtete, sang sie „Mein Liebling heißt Mädi, und Mädi liebt mich“, zu Coleman Hawkins‘ rasantem Höhenflug über „Crazy Rhythm“ „Alle jungen Mädchen wissen, wenn sie sich im Mondschein küssen, dass das Küssen oft gefährlich ist“ und zu Django Reinhardts und Stéphane Grappellis Version des „Lambeth Walk“ „Kennt ihr Lamberts Nachtlokal, jeder tanzt dort gern einmal.“ Dies war die Musik ihrer Jugend. Schlager, die zu Tanzveranstaltungen gespielt wurden, zu denen sie, ihre Nochnichtvolljährigkeit mit einem flotten Damenhut kaschierend, in den Trümmerjahren unmittelbar nach dem Krieg ohne Wissen ihrer Eltern ausbüxte.

Zu fast allen Standards gibt es einen deutschen Text. „The Great American Songbook“ hat ein Pendant: „Das Große Amerikanische Liederbuch in Deutsch“. Seitdem ich das weiß, suche ich auf Flohmärkten und in Antiquariaten nach Noten mit deutschem Text zu amerikanischen Standards: Arrangements für Klavier oder Akkordeon, vergilbt, die Ecken zerbröseln beim Umblättern unter den Fingern, für Leute, die sich kein Klavier leisten konnten, sonderbarerweise mit englischsprachiger Anweisung zum Stimmen der Ukulele versehen -– „Tune Uke: G-C-E-A“. Mittlerweile besitze ich davon ein Schatzkästlein voll.

„Hallo, schönes Fräulein, haben Sie für mich Zeit? Würden Sie sich mit mir treffen heute tonight? … Nehmen Sie, ich bitt‘ Sie, Ihren schönsten Hut, und dann sind wir, Sie müssen wissen, In The Mood .… Ist das schön, an nichts zu denken, … .“ Den letzten Satz erhoben sich die deutschen Liedtexter zum Programm.

„Denn unter Küssen verstummt das Gewissen, es brennen die Wangen, es wächst das Verlangen, im Herzen erglüht es, und plötzlich …(Kunstpause) … geschieht es“, dichteten die Travellers, ein populäres Swing-Trio, auf die Butterkuchen-Idylle von „Tea For Two“. Mag man in diesem Text noch ein gewisses Maß an Komik erkennen können, die Kunstpause deutet schon an, worin die Karriere des Trios schließlich mündete: Die Travellers besangen zum Schluss Schallplatten mit schlüpfrigen Witzen für den feucht-schwülen Herrenabend. Verzeihlich: Wer in der Marktwirtschaft überleben will, muss sich ihren Gesetzen beugen. Unverzeihlich allerdings, dass die drei Herrenmenschen keine fünf Jahre nach Kriegsende die Unverfrorenheit aufbrachten, den Sinti und Roma, die den Völkermord überlebt hatten, diesen deutschen Gruß zu entbieten: „Trag nix Hemd, bis grau ist, Schuh bis Zeh rausschaut, sauf nix, bis Kopf blau ist, weil dich sonst Vater mit Stock verhaut.“

Der Kabarettist und Textdichter Günter Neumann (bekannt aus „Wir Wunderkinder“ und „Dalli! Dalli!“) klärte Jahre vor Oswald Kolle und dem ersten Helga-Film in seiner Version von Cole Porters „It’s Too Darn Hot“ über den Zusammenhang zwischen hochfliegenden Thermometern und der Libido des deutschen Mannes auf: „Doch wenn’s Thermometer nach oben saust, das weiß jedermann ganz genau, ist die Lust kaum bewusst, ist der Sinn schnell dahin, ist der Drang nicht sehr lang und mehr als flau.“ – Spitze!

Bully Buhlan fuhr per Expresszug auf der Melodie von „Chattanooga Choo-Choo“ nach Kötzschenbroda im Freistaat Sachsen, in dem laut Travellers bekanntlich „die schönen Mädchen auf den Bäumen wachsen“. Gesegnet durch die Gnade der frühen Geburt musste Buhlan noch nicht mit Udo Lindenbergs Ges… (jetzt hätte ich in einer Panikattacke doch beinahe „Gesang“ geschrieben) … Genuschel vom „Sonderzug nach Pankow“ konkurrieren.

„Frenesi“ machte Artie Shaw zum Hit. Woody Herman, Lester Young, Betty Carter und Anita O‘Day machten daraus Kunst. Der Verfasser des deutschen Textes machte daraus eine Art Kriminal-Tango in der Taverne um „Mitternacht in Mexiko“: „Mein Herz verlor ich gleich beim ersten Kuss und meine Brieftasche beim zweiten Schuss, als dann das Licht ausging mit Krach am Schluss, ist mir die Frau durchgebrannt.“

„Wenn im Tal die Glocken läuten“ ist nicht etwa der Titel eines Heimatfilms mit Wetterleuchten, Wilderern, Murmeltieren, rauschenden Bächen, röhrendem Zwölfender, brünftigen Holzhackerbuam und einem smarten Tierarzt aus der großen Stadt, dem nach allerlei Tolpatschereien die fesche Förster-Zenzi zum finalen Erlösungskuss in die Arme sinkt. Hinter „Wenn im Tal die Glocken läuten“ verbirgt sich „In The Chapel In The Moonlight“. Sonny Rollins machte aus dieser im amerikanischen Originaltext ebenso unerträglichen Schnulze eine bewegende Ballade – Jazzimprovisation in Vollendung.

„Greensleeves“ ist eine Liebesweise, die der Legende nach Heinrich VIII. für Anne Boleyn verfasst haben soll; damals hatte er es lediglich auf ihr Herz abgesehen, noch nicht auf ihren Kopf. Mehr als 400 Jahre darauf, im Frühling 1961, hat John Coltrane dieses Stück eingespielt; im Arrangement von Eric Dolphy, begleitet von seinem Africa/Brass-Ensemble und den fließenden Polyrhythmen von Elvin Jones. Hildegard Knef hat sich etwa zur gleichen Zeit dieses Walzers angenommen. Ein Projekt, das nicht von allzu viel Köpfchen zeugt, macht sie doch das Liebesgesäusel des Frauenmörders zu einer flammenden Anklage gegen die Sinnlosigkeit des Krieges. Sie singt unter anderem über einen Ulanenleutnant, der zur Maienzeit ein Mädel freit, bevor er in den deutsch-französischen Krieg einrückt. Es gehört wohl die Abgebrühtheit eines mit allen Abwassern des Showbusiness gewaschenen Weltstars dazu, um folgende Zeile zu singen, ohne dabei auch nur ein einziges Mal mit der falschen Wimper zu zucken: „Stolz weht sein Schnurrbart im Morgenwind, und man schrieb achtzehnhundertundsiebzig“.

Vorbei, verjährt, vom Winde verweht, zu Recht vergessen, ein halb verrottetes Sammelsurium des Schwachsinns.

Im Jazz zählt das Wie, nicht das Was. Dem Was aber kann man sich als Muttersprachler in puncto Liedtexte nun einmal nicht entziehen. Vielleicht ist es das Beste, gesungenen Jazz nur in einer Sprache zu hören, die man nicht beherrscht. In Tschechisch zum Beispiel. Tschechisch ist eine schöne Sprache, eine geschmeidige, eine melodiöse Sprache, wie geschaffen für den Jazzgesang. Das Schönste aber am Tschechischen ist dies: Ich verstehe nicht ein einziges Wort. Von dem Pianisten und Sänger Vladimir Klusak und seinem „Swing Kvartet v Redute“ aus Prag gibt es eine mitreißende Version von Gershwins Klassiker „I Got Rhythm“ – „Tamta Dama“.

Uwe Wiedenstried

Veröffentlicht am unter Blog thing

Deutscher Jazzpreis 2024

1 Kommentar zu „Tamta Dama“

  1. Eveline Strebinger

    Hallo, ich singe grad mit meinem Chor „in the Mood“ – zu dem Konzert wird auch mein 87jähriger Vater kommen. Er hat in seiner Jugend in einer Band gespielt und sich bruchstückhaft an den deutschen Text erinnert, von dem sie oben ein paar Zeilen geschrieben haben. Er findet nur mehr den Anfang und ist ganz traurig darüber. Könnten Sie mir den ganzen Text zukommen lassen? Er würde sich so darüber freuen! Danke schön und liebe Grüße aus Wien
    Eveline Strebinger