Jazz gucken…

André NendzaZeit ist ein rares Gut. Vor allem, wenn die häusliche Umgebung seit anderthalb Jahren von einer kleinen Sprengmeisterin in dauerhaftem Alarmzustand gehalten wird. Obwohl es auch für Blog-thing-Leser sicher interessant ist, zu erfahren, dass ein 80 cm großes Wesen ein frisch geputztes und gründlich aufgeräumtes, 160 qm großes Haus innerhalb von 5 Minuten in ein Inferno der Verwüstung verwandeln kann, ist mir aber schon bewusst, dass ich mich mit dieser Problematik doch eher an die Zeitschrift „Eltern“ wenden sollte.

Aber vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich bei mir mittlerweile so ca. 30 ungesehene DVDs angesammelt haben, teilweise noch originalverpackt. Das Spektrum reicht von „Horton hört ein Huh“ über „No country for old men“ bis hin zu Bergmans „Das siebente Siegel“. Leider keine Jazz-DVDs. Zwar habe ich mir die neue Grönemeyer „Best-of“ gekauft. (Und zwar in der, man gönnt sich ja sonst nichts, Ultra-De-Luxe-Spezial-Ausgabe mit Foto-Buch, Doppel-CD, Vinyl-Platte, Daten-Stick (!) und eben DVD. Fehlt eigentlich nur noch der Schlüssel zu seiner Wohnungstür.) Aber eben keine Jazz-DVDs.

Es scheint so, dass das Medium DVD im Umfeld des Jazz kaum als solches genutzt wird. Natürlich sind sämtliche VHS-Videos mittlerweile im Sinne der Mehrfachverwertung re-, re-, re- und rereleast. Und in den Archiven schlummert endlos weiteres Material, welches sicherlich wert ist, in guter Qualität digital auf- und abgearbeitet zu werden. Aber wirklich für das Medium DVD produzierte Werke sind leider rar. Klar, dass sich bei den derzeit üblichen Verkaufszahlen von Jazz-CDs erst recht niemand an die noch teurere Produktion einer DVD heranwagt. Da gibt es natürlich nur von kommerziell viel versprechenden Künstlern mal eine Neuproduktion, die sich allerdings meist im Wesentlichen doch auf Abfilmen eines Live-Konzertes beschränkt. Manchmal noch mit einer Art Making-Of als Bonusmaterial.

Das ist schade, denn im Kern ist das Medium doch unglaublich jazzgeeignet. Der gemeine Jazzhörer ist ja als Musikbesessener nach meinen Erfahrungen stark an vielfältigsten Informationen interessiert. An Interviews, Outtakes, Studiodokumentationen, Homestories und natürlich Infos über Blattstärke, Saitenfabrikat und Schuhgröße der beteiligten Protagonisten.

Just als ich mal wieder diesen Gedanken nachhing, flatterte mir die DVD „Let Yourself Go – Die Leben des Jazz-Pianisten Fred Hersch“ ins Haus. Und hier gab es gleich mehrere Gründe, diese Scheibe nicht zu den anderen 30 zu legen und sie dann eventuell im Jahr 2016 mal anzuschauen. Zum einen wusste ich abseits der Schublade „Pianist mit HIV“ wenig von Fred Hersch. Dann arbeitete meine zukünftige Ex-Schwägerin Ike Bolik als Sprecherin an dieser Produktion mit. Auch mit der Regisseurin Katja Duregger bin ich entfernt freundschaftlich bekannt. Und dann war auch noch Weihnachten. In wohlwollender Stimmung setzte ich mich also direkt mal vor den feierlich geschmückten Fernseher.

Der Hauptteil dieser Produktion ist eine klassische Dokumentation über Fred Hersch. Das passt aus meiner Sicht gut zum kammermusikalischen Ansatz der Musik des Pianisten und ist absolut Doku-Kanal-tauglich. Dann werden neben einem Hauptfilm drei weitere zusätzliche Module angeboten, welche sich tiefergehend mit Schwerpunktthemen rund um den Pianisten beschäftigen. Zusätzlich gibt es dann als Bonus noch einen Konzertmitschnitt und als CD-Rom-Teil Notenmaterial und andere Infos. Die letztgenannten Aspekte sind also DVD-typische Stilmittel und treffen damit mein oben beschriebenes Ansinnen. Ich bin hier natürlich nicht besonders kritisch (oder gar objektiv) und finde die DVD einfach mal gelungen. Also: Gerne mehr davon.

Zumal Jazz im „regulären“ Fernsehen meistens zu – selbst für Musiker – absurd später Zeit regelrecht versteckt stattfindet und zudem tendenziell nur die Höhepunkte der entsprechenden Festivals versendet werden. Hier hat sich für mich YouTube mittlerweile zu einer relevanten Ergänzung entwickelt. Sound und Bildqualität sind natürlich manchmal fraglich (auch wir haben mit unserem Projekt „Lemke-Nendza-Hillmann“ ein paar ziemlich „roughe“ Clips ins Netz gestellt), und man ist zudem geneigt, von Filmchen zu Filmchen zu hecheln, ohne sich wirklich auf etwas einzulassen. Gefangen in der Zeitfressmaschine zwischen MySpace, Wiki, Google und YouTube ist dann der Ausgang nicht selten schwer zu finden. So kann eine elegante, Hawaii-artige Computersurfwelle mit dem Auftrieb eines Cassandra-Wilson-Videos – hier gerne das grandiose „Redemption song“ – beginnen und dann doch irgendwann bei Gittes „Ich will ’nen Cowboy als Mann“ am Ufer des örtlichen Baggersees versanden. (Und all die wichtigen Zwischenfragen wie „Wann ist Cassandra geboren?“, „War Gitte nicht mit Niels-Henning Ørsted-Pedersen liiert?“ und „Lebt Rex Gildo noch?“ lassen sich – als Fußnote – mit Wiki bestimmt zielsicher beantworten.) Aber dennoch kann man in der Röhre zu den meisten Musikern unzählige spannende Clips finden. Altes von Charlie Parker und Neues von The Bad Plus. Gebrauchtes von Wynton und etwas Blaues von Robert Johnson. Ganz besonders Spaß machen mir die Filme, welche mit Jazz und Humor zu tun haben. Auch ein rares Gut. (Hier mein Dauer-Favorit: Bill Cosby trifft auf Sonny Stitt.)

Neben dem genannten Großraumportal fangen auch Musiker an, sich eigene Videoforen zu schaffen. Hier bin ich beispielsweise gerade auf die vom Saxofonisten Hayden Chisholm mitgestaltete Homepage „plushmusic“ gestoßen. Ein subtiler Ort zwischen Jazz, Klassik und anderem. Sehr einladend.

So kann man sich also mit einem Mix aus Videos, DVDs und Computer sein eigenes, alternatives Jazz-Programm machen. Eigentlich doch eine gute Nachricht, wenn das nur mit dem Sortieren der Information nicht so kompliziert wäre. Hier zeichnet sich ein wirklich neues Berufsfeld ab. Unter dem Leitspruch „Nicht mehr denken – Nur noch gucken“ sucht und findet der private Informationskanalisierer für Sie, nach einem umfassenden Scan Ihrer Persönlichkeit, die Inhalte, die Sie verdienen… Ich glaube, ich bleibe doch lieber bei den selbst gestrickten Lösungen. Ab und an mal ein Stündchen vor dem Computer versacken ist ja nun auch nicht so schlimm. Andere Leute machen halt Ikebana-Kurse.

Nachtrag:

Während ich hier über die Möglichkeiten von DVDs und Computer sinniere, fällt mir auf, dass ich schon länger bei keinem Konzert war. Die Schattenseite, gespeist aus Zeitmangel und Bequemlichkeit. Da muss etwas geschehen. Zwar muss ich mich auf meinem Sofa nicht über irgendwelche Deppen aufregen, die das Bühnengeschehen unmittelbar kommentieren, diskutieren und kategorisieren. Aber das Wesentliche im Jazz passiert nun mal auf realen Bühnen, welche allerdings dann manchmal auch nicht viel größer sind als der Bildschirm eines Fernsehers. Mal sehen, was im Stadtgarten läuft.

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6 Kommentare zu „Jazz gucken…“

  1. Das mit den 80 Zentimentern und der verwüsteten Wohnung kann ich gut verstehen – bei mir ist’s mittlerweile ein knapper Meter, der eine Spur der Zerstörung hinter sich lässt. Doch dem mit den nicht erscheinenden bzw. vorhandenen oder zu findenden Jazz-DVDs möchte ich widersprechen: Es gibt z.B. eine feine Reihe, die vom Billigheimer Naxos auch hier in Deutschland in die Läden gestellt wird: „Jazz Icons“ nennt sie sich und fasst Live-Konzert- und -Fernsehmitschnitte von – nomen est omen – Jazz-Ikonen jeweils auf einer DVD zusammen. Neulich erst habe ich die mit dem Coltrane Quartet gesehen – wunderbar, wie sich diese vier u.a. in einem spacig gestalteten TV-Studio verlieren – ich glaube, es ist eines der einstigen ARD-Anstalt SWF, unter der Ägide von JEB.

  2. Hallo Laurie,
    Ich gebe Dir recht, das es einiges an sehr guten Zusammenstellungen und Wiederentdeckungen von Archivmaterial gibt. Und die Naxos-Reihe hört sich da interessant an und ich befürchte, ich werde da käuferisch tätig werden müssen. Mir ging es aber vor allem um „Neu-Produktionen“, wie beispielsweise die Dokumentation „The Art of Improvisation“ über Keith Jarrett. Sehr schön fand ich auch die Kombination von Früh-70ger Konzertmitschnitt und neu gefilmten, aktuellen Statements der beteiligten Musiker bei „Miles Davis-Call it anything“. Davon hätte ich gerne mehr.
    Beste Grüße
    André

  3. Da magst du recht haben, was „Neuproduktionen“ betrifft. Obwohl es einige aktuelle Konzertmitschnitte auch auf DVD geschafft haben. Und obwohl es eigentlich auch spannende, vor allem neue Filmdokus gibt – aber nur selten hier in Deutschland zu sehen (mögliche Ausnahme: Julian Benedikt). Das Problem: Diese Dokus erscheinen in der Regel nicht auf DVD – zumindest nicht in Deutschland. Vor einer Weile schon habe ich z.B. eine berührende und durchaus neue Erkenntnisse liefernde Doku über Albert Ayler gesehen: Kaspar Collins „My Name Is Albert Ayler“ – nicht nur mit Gesprächen mit Musikern, sondern auch mit Familienmitgliedern wie dem Vater. Die lief leider nur in ein paar wenigen Programmkinos – und das war’s. Oder auf Arte einen ebenfalls berührenden Film über Yusef Lateef. Aber auch hier: keine „kommerzielle“ DVD-VÖ in Sicht. Dabei wäre das Arte-Archiv ein Fundus für solche Dokus – auch und gerade deshalb, weil man wohl in Frankreich Jazz und improvisierte Musik weitaus artifizieller in eine kongeniale Bildsprache umzusetzen versteht. Woran liegt’s, dass nur wenige als DVDs erscheinen? An den Rechten? Mangelndes Interesse beim Publikum? Wer weiß. Bis jemand tatsächlich diese Schätze hebt, muss man sich als audiovisueller Jazz-“Hörer“ eben an die „alten“ Jazz-Ikonen halten…

  4. Ich habe mal vor einiger Zeit an die Fernsehanstalten geschrieben, denn ich war auf der Suche nach Konzerten, die ich vor langer Zeit im Fernsehen geguckt hatte und die ich gerne einmal wiedersehen würde (das Doldiner-Jubilee Konzert von 1974 und ein Konzert von Wayne Shorter mit Terri Lyne Carrington, Rachel Z u.a.), beim Fernsehen gibts aber leider nur Mitschnitte auf VHS oder DVD für zig Euro (so 40 € pro Kassette oder 50 € auf DVD, siehe „Senemitschnitt delta“, hier würde ich mich über günstigere Veröffentlichungen auf DVD sehr freuen (oder Wiederholungen), denn die Qualität der Aufnahnmen war sehr gut. Auch würde ich mir gerne manche Konzerte, die ich besucht habe, z.B Aki Takase plays Fats Waller gerne auf DVD noch einmal anschauen, den das Konzert war nicht nur ein Ohren-, sondern auch ein Augenschmaus. Nun ja, Wünsche hat man viele, ich glaube, es schlummern noch viele gute Aufnahmen in den Archiven, aber dann gibt es immer die berühmten Rechte, wer was wann wie verwerten darf und daran scheiterts dann. Schade…

  5. Zwar ist der Weg weit, bis rüber über den Atlantik, dennoch eine interessante Jazz-Film-Veranstaltung: http://jazztimes.com/columns_and_features/news/detail.cfm?article=11719.

  6. Ich gebe ir vollkommen recht. ich suche bis heute die VÖ bzw nen stream oder dergleichen von der Yusef Lateef Doku auf arte.
    Sie hat mich zu Tränen gerührt.