I wie E

Uwe Wiedenstried (Illustration)Ja, ich bekenne es in aller Offenheit: Ich bin ein Fernseh-Junkie. Seitdem ich kaum drei Käse hoch und somit in der Lage war, auf den Einschaltknopf unseres Philips Goya zu patschen und ohne fremde Hilfe auf den Fernsehsessel im Wohnzimmer meiner Eltern zu krabbeln – ein wuchtiger curry-farbener Würfel auf Rollen mit schwarzem Lederimitat auf den Armlehnen, der mir immer das Gefühl gab, im Kommandostuhl Captain Kirks zu präsidieren –, seit jener Zeit sitze ich vor der Glotze. Ich habe alles gesehen von „Gestatten, mein Name ist Cox“ und „Stanley Beamish“ bis zu „Sex and the City“ und dem „Sturm der Liebe“, von Werner Höfers Saufgelage, Lemkes Schweinderln, dem Hasen Cäsar und Klementine bis zu O-Jeh!BieKeh, Schmidt & Pocher, Dirk Bach und Heidi Klum. Doch vor dem, was uns in diesem Jahr bevorsteht, davor graut selbst mir.

2009 ist ein Jahr des Erinnerns und Gedenkens. 2009 ist das Jahr all der BeKnoppten beim ZDF, in der ARD, bei NTV und Phoenix, das Jahr der Schwafelrunden um Anne Will, Sandra Maischberger und Reinhold Beckmann, das Jahr der wilden Phraserei und des Geschichteklitterns: 20 Jahre Mauerfall, 60 Jahre Grundgesetz, vor 70 Jahren fiel die Wehrmacht in Polen ein, vor 90 Jahren wurde in Weimar der erste demokratische Rechtsstaat auf deutschem Boden gegründet. Wer weiß, vielleicht fallen sogar ein paar salbungsvolle Worte für den Schreiner Johann Georg Elser ab, der am 9. November 1939 versuchte, die Welt von Hitler zu erlösen. Haben Mitte Januar Safranski und Sloterdijk oder wenigstens Volker Panzer in seinem „Nachtstudio“ eigentlich die Gelegenheit genutzt, mit in Hunderten von Sprechblasengewittern gestählten Experten wie Herfried Münkler oder Arnulf Baring den 90. Jahrestag des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu zerquasseln? Ich weiß es nicht, nachts sehe ich nur das Erste: Gangster-Filme mit James Cagney oder Edward G. Robinson sind eindeutig die bessere Wahl. Eines scheint mir gewiss: Im Oktober wird es keine Sondersendungen zum Thema „80 Jahre Schwarzer Freitag“ geben. Wirtschaft ist größtenteils Psychologie; somit ist schon aus Gründen der Staatsräson alles zu vermeiden, was in der derzeitigen Krise Zweifel am „So schlimm wird’s schon nicht kommen“-Optimismus nähren könnte.

Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Wer immer das geschrieben hat, dem entgegne ich dies: Sie können auch zur Hölle werden, aus der es kein Entrinnen gibt. Meine Erinnerungen setzen im Jahr 1969 ein, dem Jahr, in dem ich aus allen Wolken fiel, weil mir eben jene Illusionen geraubt wurden, ohne die ein heranwachsender Mensch sich kaum zu einem brav funktionierenden Mitglied der Gesellschaft entwickeln und bis ans Ende seiner Tage glücklich im Einklang mit den vorgegebenen Werten und Normen leben kann.

1969, im zarten Alter von acht Jahren, kam ich zu dieser mein Leben bis heute niederdrückenden Erkenntnis: Vertraue keiner Autorität, niemals und nie, nie wieder! Alles, was dir die Erwachsenen, was dir Papa und Mama, deine Sachkundelehrerin Fräulein Jürgens und Pastor Smit eintrichtern, ist Bullshit, jawohl Bullshit, dampfende Ochsenscheiße ist es, nichts anderes! Diese Erkenntnis verdanke ich den Herren Armstrong und Davis, die im Jahre 1969 Weltgeschichte machten. Armstrong und Davis – Namen, die man den Lesern dieser Kolumne wohl kaum erläutern muss.

Am 21. Juli 1969 weckte mich mein Vater gegen drei Uhr nachts aus dem Tiefschlaf. Wir Männer hatten verabredet, gemeinsam fernzusehen. Um diese Zeit sendete das Fernsehen eigentlich nur dann, wenn „Ali“ boxte, aber „Ali“ boxte in jener Nacht nicht. Gleich sollte es losgehen. Aber es ging nicht los. Man sah wieder nur das Standfoto eines Mannes, der einen weißen Telefonhörer an sein rechtes Ohr presste, welcher aussah wie ein Hundeknochen. Unter dem Foto stand: „Am Telefon in Houston: Werner Büdeler.“

Dann erklang die Stimme Günter Siefarths aus dem Studio: „Sie haben gerade E-V-A genannt, Werner Büdeler?“ – „Richtig“, knisterte es vom anderen Ende der Leitung, das Bild wackelte ein bisschen, verschwand und tauchte wieder auf: „Ikstra wiehikjulärr ecktivietie.“ Und dann übersetzte Büdeler: „Also, extra-vehikuläre Aktivität.“

„Was sollen denn das heißen?“, fragte mein Vater.
„Die steigen jetzt aus“, sagte ich. Taten sie aber nicht, noch lange nicht.

Deshalb mussten wieder einmal die beiden Studenten im Studio ran: Sie waren als Astronauten verkleidet. Der eine spielte Armstrong, der andere Aldrin. Sie standen in einem 1-zu-1-Modell der Eagle. Armstrong zwängte sich durch die schmale Luke und setzte seinen Fuß auf die „Veranda“ des „Mondbootes“. So muss es wohl aussehen, wenn gleich die ersten Bilder vom Mond kommen, dachte ich mir. „Zu dem, was wir hier demonstrieren, müssen wir ganz deutlich sagen: In unserem Studio haben unsere Astronauten nicht die Helme auf, wie sie auf dem Monde erforderlich sind“, erläuterte Günter Siefarth, Chef-Moderator im ARD-Mondlande-Studio.

Dann, um fünf vor vier, kam endlich das erste verschwommene Schwarzweiß-Bild, es stand auf dem Kopf, aber der Journalist Hans Heine erkannte mit dem geschulten Blick des Raumfahrtexperten sofort, was dort zu sehen war: „Hier ist der Fuß von Armstrong.“

„Wessen Fuß sonst?“, brummte mein Vater. „Der von Herrn Sumsemann?“ Dreizehn Minuten später stieg Aldrin aus. Armstrong und Aldrin hüpften wie die Känguruhs, stopften Steine und schütteten Staub in Plastiktütchen, machten Schnappschüsse, setzten ein Segel zum Einfangen des Sonnenwindes und hissten die Stars-and-Stripes.

Das soll alles gewesen sein? Hatten wir dafür tagelang vor dem Fernseher gesessen? Haben wir uns dafür geduldig Stunde um Stunde angehört, dass die überlegene amerikanische High-Tech-Industrie für eine Million Dollar einen Gelee-Kugelschreiber entwickelt hat, der in der Schwerelosigkeit ebenso tadellos funktioniert wie der primitive Schulbleistift, den der russische Kosmonaut immer noch zu benutzen gezwungen ist? Haben wir dafür den Raumfahrtexperten Anatol Johansen über uns ergehen lassen, der mit schnarrender Stimme erläuterte, dass sich der Schuhabdruck Armstrongs etwa 3,8 Zentimeter tief in den Mondstaub senken wird? Oder Werner Büdeler, der uns vorrechnete, „dass die Herztätigkeit bei Armschtrong“ – er sprach ihn wirklich „schtrong“ aus – „beim Einschießen in die Abstiegsbahn 110 Herzschläge betragen hat, im Augenblick des Aufsetzens 156 und etwa 20 Minuten danach 90″?

Wo, bitte, blieb das Begrüßungskomitee? Am Gestell der Mondfähre war eine Plakette angebracht mit folgender Inschrift: „Wir kamen in Frieden, stellvertretend für die gesamte Menschheit.“ Wem galt diese Botschaft? Doch wohl den Außerirdischen oder dem lieben Gott. Gut, vielleicht hatte der gerade in einem anderen Universum etwas zu erschaffen und konnte selbst nicht kommen. Aber Jesus, Petrus, Erzengel Gabriel, hätte sich nicht wenigstens einer von ihnen herbequemen können, um Armstrong und Aldrin die Hände zu schütteln?

Ich habe 1969 einiges schlucken müssen: Anfang des Jahres wies mir mein Freund Joachim auf dem Schulhof mit nicht zu widerlegender Logik nach, dass es weder einen Weihnachtsmann noch einen Osterhasen geben könne. Dann, drei Wochen vor der Mondlandung, bekam meine große Schwester ein neuartiges Schulbuch für den Biologieunterricht: einen Sexualkunde-Atlas. Das Brüderchen, das im Bauch unserer Mutter heranwuchs, stamme nicht vom Klapperstorch, sagte sie und las zum Beleg aus dem Atlas vor, wie unser Brüderchen tatsächlich gemacht worden war: „Bei der geschlechtlichen Vereinigung, Geschlechtsakt, Beischlaf, führt der Mann sein versteiftes Glied in die Scheide der Frau und führt damit ruckartige Bewegungen aus.“

Kein Weihnachtsmann! Kein Klapperstorch! Keine Marsmännchen! Kein Gott! – Der Himmel ist leer. Wir sind allein. Es ist alles Blödsinn, was uns die Erwachsenen eintrichtern. Bullshit. Dampfende Ochsenkacke! Gut, mir blieb immer noch Winnetou, aber da hatte ich den dritten Band auch noch nicht gelesen.

Einen Monat darauf hätte ich dann schon wieder einen meiner Halbgötter begraben können: Miles Davis. Wenn ich denn schon etwas von seiner Existenz gewusst hätte, aber in meinem Elternhaus gab es damals keinen Jazz, sondern La Paloma, Zigeunerjunge und Oh, Baby, Baby, Balla, Balla. Dass Miles Davis sein Dasein als Jazztrompeter in diesem Jahr aushauchte, nein, ausfiepste und -krächzte, wurde mir erst gut eineinhalb Jahrzehnte später klar, als ich zum ersten Mal sein Album Bitches Brew hörte, das im August 1969 aufgenommen wurde. Vielen gilt es als Meisterwerk, als Startschuss und Katalysator eines neuen Jazzstils, für den die Pressefuzzis der Schallplattenkonzerne Namen wie Fusion, Crossover, Jazz-Rock oder Rock-Jazz ersannen. Miles Davis‘ elektrisch verzerrtes Trompetengezirpe vor dem Gewabere aus drei E-Pianos, drei Bässen und vier Schlagzeugen traf den Geschmack der gegen Vietnamkrieg und Establishment aufbegehrenden Jugend. Im selben Monat hatte sich eine Million Menschen auf den Weg nach Woodstock gemacht, um Hendrix, Alvin Lee, Santana und The Who zu hören. In deren Taschen saßen die Dollars, die Columbia Records mit Miles Davis verdienen wollte und sollte.

Miles Davis hängte Anzug und Krawatte an den Nagel, sonst hätte ihn die umworbene Kundschaft noch mit einem Spießer verwechselt, warf sich in ein kunterbuntes Outfit, setzte eine coole Sonnenbrille auf und lieferte, was der Markt verlangte. Jahre vorher hatte er, sehr zu Recht, Armstrong (Louis) noch als „Onkel Tom“ bezeichnet, der sich zum Affen für ein weißes Massenpublikum mache und seine große Kunst von einst dem Kommerz geopfert habe. Miles Davis war selbstredend kein „Onkel Tom“. Welcher „Onkel Tom“ hätte es je gewagt, so oft über den „bösen weißen Mann“ zu schimpfen oder seinem Publikum die Kehrseite zuzuwenden? Davis machte Millionen. Bitches Brew verkaufte sich bereits im ersten halben Jahr nach Erscheinen 600.000 Mal, während es die wunderbare Musik, die er vorher gemacht hatte, bis dahin im Schnitt nur auf Verkaufsziffern von 25.000 pro Album gebracht hatte.

Ist das Elektronik-Gebräu auf Bitches Brew eigenlich Jazz? Wer davon ausgeht, dass Jazz sich vor anderen Musikformen vor allem durch Authentizität und Spontaneität auszeichnet, muss wohl antworten: Nein. Miles Davis und sein Produzent Teo Macero haben das, was die Musiker im Studio eingespielt haben, aufwändig nachbearbeitet: Passagen verlängert, in Bandschleifen wiederholt und wiederholt, andere Teile rausgeschnitten, in neuer Reihenfolge montiert, aus zwei Takes derselben Nummer einen gemacht.

Mit Bitches Brew ist Davis ins große Geschäft ein- und für viele damit aus dem Jazz ausgestiegen: „Die folgenden Produktionen von Miles Davis sind für den Jazzplattensammler kaum noch von Interesse“, steht in der Illustrated Encyclopedia Of Jazz. Arrigo Polillo charakterisiert seine Musik nach Bitches Brew als „effekthascherisch“, „langweilig“, „unförmig“ und „immer minderwertiger“. Davis sei ein „heiserer und bedeutungsloser Instrumentalist.“ 1973 buht das Publikum in Montreux Davis geradezu nieder, bis er seinen Auftritt abbricht.

Neu ist die Musik auf Bitches Brew übrigens auch nicht: Wenn mich mein Ohr nicht täuscht, hat sich schon Major Cliff Allister McLane, Kommandant des schnellen Raumkreuzers Orion, gemeinsam mit Tamara Jagellovsk, Offizierin des Galaktischen Sicherheitsdienstes, zu derartigen atmosphärischen Störungen im Balztanz verrenkt. Den Frogs ist es leider nicht gelungen, das Starlight-Casino zu zerstören, da McLane ihre Invasion (Teil 7) in letzter Sekunde stoppen konnte. Die Bänder des Starlight-DJs müssen später in den Besitz von Miles Davis gelangt sein. Wie, wann und durch wen? Darüber schweigt sich die Jazzforschung bis heute aus. – Dennoch: „Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen Wirklichkeit sein.“

Wie auch immer: Um den 21. Juli herum wird irgendein Fernsehsender die Mondlandung von 1969 wiederholen. Ich werde mir die Sendung ansehen – wie jedes Jahr –, meinen verlorenen Illusionen nachtrauern und mir einen antütern. Bitte, nicht nachmachen! Zumindest all jene nicht, die hinterher noch fahren müssen. Sich-einen-Antütern ist laut Straßenverkehrsordnung nur als E-V-A, sprich: „I wie E“, erlaubt, als extra-vehicular activity.

Uwe Wiedenstried

Veröffentlicht am unter Blog thing

jazzfuel

1 Kommentar zu „I wie E“

  1. Super Text, Uwe! Ich war da ja erst eins…

    Und im übrigen: Dass das Publikum nicht mitkommt, wenn einer die Musik neu erfindet, ist ja auch nichts Neues…