Geölte Ohren

Uwe Wiedenstried (Illustration)„Meine Lieblingssängerin ist Kay Starr.“ Lester Young hat das gesagt, in einem Radio-Interview, das er am 24. August 1958 Chris Albertson gegeben hat. Nein, gesagt ist nicht das treffende Wort. Young säuselt seine Antworten in sanftem Singsang vor sich hin. Überhaupt ist er nicht ganz bei der Sache: Er antwortet meist erst nach einer Schrecksekunde; mehrmals bittet er Albertson, seine Frage zu wiederholen. Angesichts der blitzgescheiten Fragen des Musikjournalisten und Jazzhistorikers Albertson dürfte Desinteresse als Motiv wohl auszuschließen sein, und so muss man die Erklärung für Youngs Benehmen wohl in der traurigen Tatsache begründet vermuten, dass er regelmäßig den Rauch einer bewusstseinserweiternden Droge inhalierte und zudem tagtäglich alkoholhaltigen Getränken in einem seiner Konzentrationsfähigkeit höchst abträglichen Quantum zusprach. Eine Entschuldigung ist dies natürlich nicht.

Kay Starr war eine Schlager- und Country-Sängerin; ihr größter Hit hieß „Wheel Of Fortune“, die Glücksrad-Melodie. Bei einem Musiker vom Range Youngs hätte die Antwort selbstredend Sarah Vaughan oder Billie Holiday lauten müssen. Dies dämmert dem Präsidenten einen Augenblick darauf, und er versucht sich zu korrigieren:

„Nein, das ist der falsche Name. – Wie ist noch mal der Name der anderen Lady? Ihr Ehemann hat eine Band.“
„Doch nicht Jo Stafford!!??“
„Doch, ja, die habe ich gemeint.“
„Jo Stafford ist Ihre Lieblingssängerin?“
„Yeah, und Lady Day, und damit bin ich alle durch.“
„Aber Jo Stafford singt keinen Jazz, oder?“
„Nein, aber ich höre ihre Stimme und die Klänge und die Art, in der sie die Songs bringt.“
„Sie mögen das? – Das ist verblüffend.“
„Hm, Hm“, summt der Präsident bejahend.

Schwestern und Brüder im wahren, weil einzigen Glauben an die reine Lehre, an den echten Jazz, gepriesen sei der Herr, Charles Christopher Parker, und gebenedeit die Frucht seiner Töne, John William Coltrane und Ornette Coleman, seine eingeborenen Söhne, die uns die Erlösung des Jazz aus der Knechtschaft des Kommerzes und des Massenzuspruchs brachten und das Wunder seiner Transsubstantiation von der U- zu E-Musik geschehen ließen. Die Episode sei uns Mahnung und Ermunterung zugleich: Mahnung, unsere teure Seele nie den Teufeln Alkohol und Marihuana zu überantworten. Ermunterung, dem leuchtenden Beispiel unseres im Glauben felsenfesten Bruders Chris Albertson nachzueifern, nicht für einen einzigen Augenblick in dem Ringen nachzulassen, mit barmherziger Beharrlichkeit all jene auf den rechten Pfad zu führen, die immer noch vermeinen, Musik allein nach ihrem Gehör beurteilen zu können.

Es steht uns nicht an zu richten. Vorbei die dunkle Zeit, zum Glück, in der das Bekenntnis zur Musik eines Louis Armstrong oder Sidney Bechet so manchen von seinem alleinseligmachenden Glauben an die Moderne durchgeglühten, äh, durchglühten Puristen sofort „Autodafé!“ rufen ließ. Wir leben in aufgeklärten Zeiten. Lester Young gehört zur Generation der Musiker vor Charlie Parker. Er konnte ergo gar nicht wissen, was das eigentlich ist – Jazz. Außerdem weist seine schlichte Wortwahl – „ihre Stimme“, „die Klänge“ –, auf einen erschreckenden Mangel an Vertrautheit mit der Terminologie und den Erkenntnissen der Jazzforschung hin.

Ohne eine perfekte Beherrschung der Begriffsapparatur, die Musikologen aus aller Welt in Jahrhunderte langer Worttüftelei zu ihrer heute vollkommenen Form ausbauten, dies dürfen wir als Petrefaktum konstatieren, ist es unmöglich, zu einem echten, tiefen Verständnis von Musik zu gelangen. Man darf bezweifeln, dass der Präsident etwa um den Unterschied zwischen „Kollektivimprovisation“ und „Variantenheterophonie“ wusste, und – man erlaube mir trotz des Ernstes dieser Angelegenheit diesen harmlosen Kalauer – vermutlich hätte er „Mixolydisch Elf-Plus“ für eine Positionsangabe beim Schiffeversenken gehalten. Dennoch sollten wir Milde walten lassen und die Möglichkeit nicht von vorneherein verneinen, dass er intuitiv richtig gelegen haben könnte, als er Jo Stafford als große Sängerin empfahl.

Ich habe das Buch der Bücher zu Rate gezogen, das New Grove Dictionary of Jazz, dort fand ich Jo Stafford nicht. Auch in den jüngeren Pergamenten, im Rough Guide oder im Kunzler, suchte ich sie. – Vergebens. Die Evangelisten Berendt und Polillo nennen ihren Namen nicht.

Doch lasset uns nicht vorschnell urteilen. Jedem gebührt das Recht auf eine zweite Chance. Befragen wir Google, die Allwissende, nach Leben und Werk Jo Staffords: Anfang der 40er Jahre arbeitet sie im Orchester des Posaunisten Tommy Dorsey, das die niedrigen Instinktbedürfnisse tanzwütiger Menschenmengen nach Swing, Schmus und Ohrwürmern befriedigt. Sie singt als Solistin und im Quartett „The Pied Pipers“ gemeinsam mit einem schmalzlockigen Schmachtlappen namens Francis Albert Sinatra. Ihm liegen die Backfische zu Füßen, ihr die Soldaten, die in Europa und im Pazifik kämpfen. „G.I.-Jo“ taufen sie sie; ihre Stimme tönt via AFN und V-Discs zu Wasser, zu Lande und in der Luft: auf der Yorktown und in der USS Seahorse, in jeder Baracke, jedem Unterstand, in jeder Flying Fortress.

1943 beginnt ihre Solo-Karriere: Sie singt die Schlager der Tin Pan Alley, Country-and-Western-Songs, irische Liebeslieder und schottische Weisen, oft begleitet von dem Orchester ihres Ehemanns Paul Weston. Sie tritt mit Gene Autry auf, dem singenden Cowboy, mit Liberace, dem fetten Plüsch-und-Rüschen-Pianisten, der sich in Las Vegas im Rolls Royce auf die Bühne fahren lässt, und mit Frankie Laine, der der amerikanischen Musik Kompositionen wie „Rawhide“ und die Melodie zum Showdown um „Zwölf Uhr mittags“ zufügte: „Do Not Forsake Me, Oh My Darling“.

Staffords Platten erscheinen bei Columbia, Capitol und Reprise. Bis 1955 verkauft allein Columbia 25 Millionen Jo-Stafford-Scheiben in aller Welt. „You Belong To Me“ wird ihr größter Hit. Sofort nach Erscheinen steht sie damit auf Platz 1 der britischen Charts. Im Vereinigten Königreich geht die Liebesschnulze eine Million Mal über die Ladentheken.

1961 erhält Jo Stafford einen Grammy: Sie tritt nämlich nebenher im Duett mit ihrem Mann unter den Pseudonymen „Darlene und Jonathan Edwards“ auf. Er klimpert schräge Akkorde am Klavier, sie singt eine Viertelnote zu hoch. So parodieren sie Perry Como und andere Knallchargen des Showbiz, zuletzt sogar „Stayin Alive“ von den Bee Gees. „America’s worst club act“ wird zum Kult, seine Platten gehen weg wie warme Semmeln.

Ich frage euch, Schwestern und Brüder, kann es noch einen Zweifel geben? Jo Stafford hat wild gewordene Lindy Hopper begeistert und an Triebstau und Heimweh leidende Privates Ryan. Der Klang ihrer Stimme wärmte klamme Motel-Zimmer, in denen Handelsreisende einem neuen verlorenen Tag entgegendumpften, er füllte die leeren Herzen bügelnder Hausfrauen vor der Flimmerkiste und glomm des Nachts in den nach Schweiß und Tabak müffelnden Schlafkojen der Brummifahrer. – Musik zum Mitsummen: „Autumn In New York“, „Almost Like Being In Love“, „In The Still Of The Night“.

Seit der Fleischwerdung des echten Jazz im heiligen St. Bebop wissen wir, dass Kunst nicht zusammenpasst mit Masse und Mammon. Ausnahmefälle wie Dave Brubeck oder Miles Davis bestätigen nur diese eherne Regel. Der Beweis ist somit erbracht, Chris Albertson hatte Recht: „Jo Stafford singt keinen Jazz.“

Ich frage euch weiter, Schwestern und Brüder, wollen, sollen, ja dürfen wir jene länger in unseren Reihen dulden, die etwas anderes behaupten? Die Sängerin Rosemary Clooney beschreibt Staffords Stimme als „wunderschön, rein, aufrichtig, ohne Schnickschnack, von beispielsloser Intonation und sofort zu erkennen“. Gut, die Versponnenheiten der alten Tante eines Hollywood-Beaus können wir getrost tolerieren, aber grenzt es nicht an Häresie, wenn Will Friedwald, immerhin der Autor des Standardwerkes über die „Swinging Voices Of America“, ihre Aufnahmen mit dem Akkordeonisten Art van Damme als „brillantes Jazz-Album“ empfiehlt? Friedwald versteigt sich sogar zu der Ketzerei, Stafford besitze die „einzigartige Fähigkeit, jedem Song eine Aura des Geheimnisvollen zu geben“. Ihre Stimme sei gleichermaßen „cool“ und „sinnlich“; Qualitäten, die sie auf dem besten ihrer 600 Alben, „Jo And Jazz“, in Vollendung demonstriere. Was einen Ben Webster oder Johnny Hodges bewogen haben mag, an dieser Produktion teilzunehmen, wissen wir nicht. Aber wir wissen, wann es geboten ist, Exkommunikation zu fordern.

Jo Stafford starb vor einem Monat, am 16. Juli 2008, im Alter von 90 Jahren. Die New York Times, The Independent, der Daily Telegraph und The New York Sun widmeten ihr Elogen.

Wie beruhigend ist es da doch, dass in den Feuilletons der großen deutschen Blätter, von der Süddeutschen über die beiden Frankfurter bis hin zur Zeit, tapfere Mitstreiter unseres Glaubens den Posten des Jazzexperten besetzen: Keine Zeile, kein Sterbenswörtchen über Jo Stafford. – Bravo!

Ewige Verdammnis und alle Qualen der Hölle aber mögen über Steven Bernstein kommen. Vordergründig ein hochmoderner Trompeter aus dem avantgardistischen Umfeld der New Yorker Knitting Factory, scheinbar Fleisch von unserem Fleische also, zeigte er unlängst sein wahres Wesen, als er einem der Beliebigkeit Tür und Tor öffnenden Liberalismus das Wort sprach, einen Satz, wie vom Präsidenten gesäuselt: „Keep your ears oiled!“

Uwe Wiedenstried

Veröffentlicht am unter Blog thing

jazzfuel

1 Kommentar zu „Geölte Ohren“

  1. Charlie Haden spielte sie mit „Alone Together“ auf der Quartet West „Always say goodbye“ wieder ein. (1993)