Das „erste Mal“

André NendzaDas letzte Mal, egal ob gelungenes Konzert, neues Projekt oder die aktuelle CD, ist für Musiker fast immer der absolute Meilenstein. Was davor war, ist ja schön und gut und war auch seinerzeit ganz wichtig, aber natürlich kein Vergleich mit dem neuen, durchschlagenden Geniestreich. Und man geht natürlich wie selbstverständlich davon aus, dass jeder, und damit meine ich: JEDER, dieses Meisterwerk kennt.

So ist es dann mehr als ernüchternd, wenn – meist nach einem grandiosen, gefeierten Auftritt – ein wohlmeinender Zuschauer das Ganze mit den Worten kommentiert:
„Sehr schöner Abend, fast so schön wie das Konzert 1997 in Castrop-Rauxel.“ Meist folgt dann noch: „Schade, dass der X nicht mehr dabei ist. Der hatte so einen schönen Ton auf seinem Saxofon.“

(Exkursion: Mein derzeit liebster Musikerwitz funktioniert am besten mit Bläsern und geht so: Man geht nach einem Konzert zu einem Kollegen und lobt ihn ganz euphorisch: „Du hast einen ganz tollen Ton auf deinem Instrument…“ Nach einer gebührenden Pause fügt man dann hinzu: „Ich glaube, es war ein G.“)

Auch meine Schwiegermutter konnte es nicht lassen, mir ab und an mitzuteilen, dass „mir dein Septett am besten gefallen hat“. Dazu muss man wissen, dass „das Septett“ mein erstes eigenes Projekt war und mittlerweile schon gefühlte tausend Jahre Geschichte ist. Außerdem hätte ich doch früher so schön E-Bass gespielt. Dass sich dieser seit einigen Jahren unter meinem Flügel (Marke Krauss, Baujahr 1905, nicht mehr stimmbar) hinter mehreren gigantisch großen CD-Paketen befindet und somit in jeder Hinsicht weitgehend aus meinem Wahrnehmungsfeld entschwunden ist, war nur schwer zu vermitteln.

Ein weiterer beliebter Satz aus der Welt der Zersetzung, meist von „alten Kollegen“ formuliert, ist übrigens: „Du hast ja früher auch sehr viel gemacht.“ Er fällt meistens, nachdem man gerade drei CDs mit wirklich guter Resonanz veröffentlicht hat, zwei Wochen mit dem dazugehörigen Schlafmangel auf Tour war und sich zu Hause erst mal tagelang mit der Machete durch den Wust unzähliger Spam Mails kämpfen muss. Und die Liste der Menschen, die um Rückruf bitten, die Dicke des Telefonbuchs von mindestens Pirmasens hat.

Jetzt sind diese Menschen ja meist nicht böswillig, sondern wollen eher ihrer Begeisterung und langjährigen Verbundenheit Ausdruck verleihen. Oder sie sind nicht aktuell informiert, denn es soll Menschen geben, die das heilige journalistische Triptychon des deutschen Jazzwesens nicht auswendig lernen. Und Musiker wiederum, Jazzmusiker zumal, leben schon aus praktischen Gründen eher als andere Menschen im Jetzt. Die Zukunft fest im Blick, die Vergangenheit als Anekdote.

Dennoch muss ich bekennen – und gibt es einen besser geeigneten Ort für öffentliche Geständnisse und Selbstbezichtigungen als blog thing? –, dass ich ab und an selber Züge der oben beschriebenen Hörer habe. So kann ich es beispielsweise nicht lassen, dem Gitarristen Axel Fischbacher so gut wie jedes Mal, wenn wir miteinander spielen, zu bekunden, dass seine Platte „Moods“ aus dem Jahre 1987 ein Meisterwerk ist, welches mich nachhaltig geprägt hat. Natürlich weiß ich, dass Axel seit dieser Zeit unzählige weitere CDs gemacht hat. Denn ich besitze sie alle. Und ich höre zweifelsohne die Verbesserungen. Doch „Moods“ war für mich die richtige Platte zur richtigen Zeit.

Auch John Scofield war für mich nie grandioser als in der Phase, in der er Anfang der 90er eine heiße Affäre mit Joe Lovano hatte. Das Wiederaufleben dieser Beziehung unter dem Titel ScoLoHoFo ca. 10 Jahre später war da nur ein müder Abklatsch, um mit einer All-Star-Besetzung über die europäischen Sommerfestivals zu ziehen. Allerdings kenne ich Leute, die alle so ca. 10 Jahre älter sind als ich und kackfrech behaupten, John Scofield wäre nie wieder so gut gewesen wie Anfang der 80er, als er mit Swallow und Nussbaum ein sagenumwobenes Trio bildete.

Natürlich kann ich aus professioneller Sicht erkennen, dass Level 42 in ihrer späten Phase in jeder Hinsicht eine bessere Band waren. Doch ich tausche das gesamte Spätwerk gegen den Moment im Herbst 1983 in der Düsseldorfer Philipshalle, als das Licht ausging, ein tiefer Ton aus dem Prophet 5 das Stück „Heathrow“ ankündigte und Mark King kurz darauf wie durchgedreht mit dem Daumen auf seinen Bass einprügelte. Was will man als 14-jähriger, frisch gebackener E-Bassist mehr?

Also gut, wenn ich ehrlich bin, fällt mir da doch so manches ein, und diese Dinge hängen meist mit der Überschrift dieses Textes zusammen. Und ganz ähnlich wie „das erste Mal“ bei vielen Menschen ein einzigartiger und unvergesslicher Moment ist, gibt es dieses „erste Mal“ auch beim Musikhören. Und hier sogar öfter. Und immer wieder. So habe ich gerade nach der Lektüre der sehr empfehlenswerten Lee-Konitz-Biografie dessen Musik und vor allem Lennie Tristano für mich entdeckt. Das Jazzwesen eröffnet einem scheinbar immer gerade dann, wenn man meint, alles zu kennen, neue oder – wie in diesem Fall – auch alte Klangwelten.

All diese „ersten Male“ stellen sich als eine tiefgreifende musikalische Hör-Erfahrung dar, die neue Türen öffnet und nichts Geringeres als das Leben schlagartig ändert.

… Man schwebt einem zarten Vogel gleich auf einer geruhsam gleitenden Wolke in unbekannte Dimensionen seiner Seele, vergisst Zeit und Raum und…

Achtung!!! Man neigt natürlich sowohl bei der retrospektiven Betrachtung seiner sexuellen Premiere als auch bei der Beschreibung erster musikalischer Fesselspiele zu rosafarbener Verklärung bis hin zu Geschichtsfälschung. (Ich – noch ein Geständnis – gebe zu, dass mir Scofields „Quiet“ und auch sein neues Album sehr gut gefällt. Und auch mit Medeski, Martin und Wood war er leider sehr gut. Und…)

Es finden sich allerdings auch in beiden Betätigungsfeldern schreckliche „erste Male“. Beispielsweise bin ich heute bekennender Keith-Jarrett-Fan und nehme auch seine bisweilen ausufernden Marotten nicht nur kritiklos hin, sondern versuche vielmehr, sie auch noch als für das Wesen des Genies unverzichtbar zu verteidigen. Doch unser erstes Mal war das Grauen!!! Es konnte auch nicht gutgehen. 1988 hatte ich gerade mit „Autumn Leaves“ mühevoll meinen ersten Standard gelernt und konnte ihn an guten Tagen auch mal mehr als einmal ohne Taktverlust und falsches Abbiegen durchspielen. Dann musste ich die Interpretation des Jarrett-Trios von selbigem Stück hören. Leider erkannte ich das Stück nur am Titel auf dem Cover. Manchmal meinte ich, bestimmte Motive wieder zu erkennen. Aber sicher war ich mir nicht. Mein Unvermögen, diese Musik auch nur im Ansatz zu verstehen, führte unmittelbar zu ungebremstem Hass auf die ausführenden Musiker. Natürlich spielen die dieses Stück nur so, um mich persönlich, und nur mich, auf das Tiefste zu demütigen!

Heute steht mir Jarretts Art, Standards zu spielen, durchaus nahe und ich bin unter anderem über diese Erfahrung eines sich erweiternden Horizonts ein Freund des bewussten und reflektierenden Musikhörens geworden. Ich hasse es, nur als Beispiel, wenn Leute eine Steve-Coleman-CD nach zweieinhalb Sekunden mit der Begründung „Sein Ton ist so kalt“ in Grund und Boden verdammen. Denn mir macht es mittlerweile große Freude herauszufinden, warum jemand so spielt, wie er spielt, und nach dem „Wer kommt woher und ging dann wohin?“ zu forschen. Um dann ganz bewusst und reflektiert zu sagen: „Sein Ton ist so kalt.“

Und doch gibt es bei mir Reaktionen auf Musik, die doch wohl eher hormongesteuert sind. So steht mir die Band „Fehlfarben“ bis heute näher als beispielsweise Ella Fitzgerald. Auch gibt mir Madonnas Version von „American Pie“ mehr als der offensichtlich virtuos und bedient spielende Al Di Meola. Weite Teile des MTV-Rap-Wesens sind mir, ganz unreflektiert und per se, verhasst und Kylie Minogues artifizielle Pop-Ästhetik finde ich großartig. Meine Heldengalerie des Jazz beginnt, grob geeicht, mit Charlie Parker und endet derzeit in etwa links neben Dave Douglas.

Jeder zweite Jazz-Pädogoge weist allerdings darauf hin, dass man auch den Jazz der Pre-Bebop-Ära studieren muss, um Jazz überhaupt zu verstehen. Für mich klingt das meiste aus dieser Zeit allerdings etwas „corny“ und ich kann – drittes Geständnis – so recht nichts damit anfangen. Und doch liebe ich Duke Ellington. Und entdecke gerade und ganz langsam Louis Armstrong für mich.

Das hängt dann doch wohl alles mit meinem guten schlechten Geschmack zusammen. Und manchmal auch mit dem „ersten Mal“.

Veröffentlicht am unter Blog thing

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8 Kommentare zu „Das „erste Mal““

  1. André,

    fettes Lob,
    dein Blog gefällt mir hier mit am besten!

    Witzig das Beispiel Keith Jarrett Trio, war bei mir genauso, ich hab sie aus dem selben Grund gehasst.

    Grüße..

  2. Moin André.
    Wo du doch gerade den Louis entdeckst (langsam, wohlgemerkt!) kannst du ja vielleicht demnächst eine Ella & Louis Scheibe reinlegen und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die höre ich mir äußerst gerne an. Im Moment ist dir das warscheinlich noch unverständlich, aber in Kürze..
    Gruß,
    Yonga

  3. Hallo André,
    ganz toll ist auch, wenn Veranstalter nach dem Hören der CD sagen:
    Dein Quartett (Anmerkung von mir : 2 Saxofone, Bass, Schlagzeug) gefällt uns wirklich sehr sehr gut, wir können Euch aber leider nicht engagieren, weil mir die Musik zu sehr nach Saxofon klingt….
    Liebe Grüße
    Sven

  4. „Du hast früher ja auch viel gemacht.“ Höre ich auch oft. Hat aber nichts mit mir zu tun (ich bin fleißig wie nie), sondern mit der Auslastung und dem Fokus der Kollegen. Du wirst das ja unter Musikern auch kennen, die kreisen alle um sich selbst und nehmen nichts neben sich wahr.

    Das mit dem alten Jazz finde ich interessant. Für mich bestand Jazz früher nur aus Gegenwart. Die neuesten Platten, die aktuellen Konzerte. Bis ich mich zu Charlie Parker zurückgegraben hatte, dauerte es vier, fünf Jahre. Was vor dem Swing war, schien mir jahrelang primitive Urzeit. Bis ich dann entdeckte, WIE spannend das alles damals war. Pure Avantgarde, Offenheit in alle Richtungen. Damals wurde ja erst definiert, was ein Solo ist, was Stil ist, was Jazz ist. Damit verglichen ist der Formalismus des Bebop langweilige Routine. Na ja, merkst du vielleicht auch noch.

  5. Lieber Richie,
    Ich kann nachvollziehen, das in dieser Zeit viele spannende Dinge passiert sind. Paradoxerweise schätze ich die Verarbeitung bestimmter formaler und vor allem klanglicher Elemente aus dieser Periode bei Musikern wie Threadgill oder auch Heberer/Manderscheid sehr. Ich zeige mich gerne Lernwillig und vermute, das ich noch nicht die richtigen Aufnahmen gehört habe. Hast Du in dieser Hinsicht Tips?
    Bestes
    André

  6. Ich glaube, ich bin fünf Jahre älter als du, André, und behaupte jetzt einmal frech, der John Scofield aus den Mitt-80ern war der beste Sco ever. Damals vor zweiundzwanzigeinhalb Jahren nach Leverkusen (sic!), um ihn im Quartett mit Jim Beard, vor allem aber mit Garry Grainger am Bass und Dennis Chambers am Schlagzeug zu hören. Heute fahre ich gar nicht mehr nach Leverkusen auf die Jazztage, weil mich die Musik dort eigentlich nur noch langweilt. Dann lieber die CD-Box hören mit den von Allan Lomax 1937 (?) produzierten Aufnahmen von Jelly Roll Morton, der nicht nur singt und spielt, sondern auch die ein oder andere Geschichte zu erzählen weiß.

  7. Lieber Martin,
    Ich gebe Dir vollkommen recht, denn ich war – viertes Geständnis – auch auf diesem Konzert. Das Konzert war im besten Sinne bombastisch und der Terassensaal drohte einzustürzen. Ich habe das, Stichwort Geschichtsfälschung, im Sinne der Unterschlagung meiner Fusion-Vergangenheit nicht erwähnt. Es waren übrigens meine ersten Jazztage und ich konnte erstmals Jazz in einer großen Bandbreite von Garbarek bis Jim Hall erleben. Zu den heutigen Jazztagen gehe ich ab und an und so habe ich – passend zum Blog – vor 2 Jahren Level 42, nach knapp 20 Jahren wieder, gesehen. Es hat überraschenderweise viel Spaß gemacht. auch weil viele Männer im meinem Alter während des Konzertes mit ihrem Daumen auf ihrer Brust trommelten…
    Bestes
    André

  8. Wenn wir schon bei den „Beichten“ sind: Meine jazzmusikalische Erweckung bzw. Initiation war 1977 (oder war’s 78?), als ich als gerade frisch Pubertierender nach Köln in die Sporthalle zum Easter Rock Festival fahren durfte (der Freund meiner älteren Schwester war mit), um (ähem) Black Sabath und AC/DC live zu sehen (finde ich heute noch gut, aber eher aus nostalgischen Gründen). Entweder hatte der Programmmacher einen sehr breiten Musikgeschmack (kennt noch jemand die deutsche Hardrock-Band Jane) oder er war einfach dumm, jedenfalls betrat – ich glaube – als dritter Act John McLaughlin mit Shakti die Bühne. Was ich besonders „cool“ fand, war, wie stoisch die in weiß gewandeten Musiker im Schneidersitz auf der Bühne das gellende Pfeifkonzert aushielten und dagegen anspielten – immerhin 20 Minuten lang, um dann mit einer Verbeugung vor dem Pulbikum ganz gelassen von der Bühne zu gehen. Da muss doch was dran sein, dachte ich, und besorgte mir die Platte. Als ich vor einigen Jahren dann noch einmal Shakti live hörte, hatte es überraschender Weise keinen Spaß gemacht. Vielleicht hätte ich doch lieber zu Level 42 gehen sollen…