Bedrohte Arten, Folge 2: Der Zausel

Martin SchüllerGeht man aus, um sich wohl zu fühlen? Na klar! Aber gehört dazu nicht auch, dass man sich ab und zu gepflegt mit jemandem in die Haare kriegt – verbal natürlich? Das kann man am besten und unterhaltsamsten natürlich mit Leuten, die einen ähnlichen Background wie der Streitsuchende haben, sonst macht es wenig Spaß. Mit einem reinen Rocker kann man sich eigentlich gar nicht auseinandersetzen, jedenfalls nicht über Musik: Du Rocker, ich Jane, alles klar. Aber unter Jazzern lässt sich herrlich disputieren, und mancher Diskurs vermag der rauchgeschwängerten Clubatmosphäre das Odeur des Intellekts hinzuzufügen. »Auf dem Foto da, neben Dizzy und Bird, ist das Coltrane?« »Trane hat nie mit den beiden gespielt!« »Steht aber hinten drauf …« »Die haben doch keine Ahnung!« Wie oft hat so oder ähnlich ein letztlich sehr gelungener Abend begonnen! Doch der Jazzer in dieser klassischen Ausprägung, nennen wir ihn »Zausel« (von »Alter Sack« hat man mir abgeraten), ist auf dem Rückzug. Selbst in Lokalitäten, die nicht einmal einen CD-Spieler besitzen (doch, so was gibt’s!), werden die Herren und (sehr wenigen) Damen selten. Obwohl dort in aller Regel gut abgehangener Hardbop gespielt wird und bereits ein Fender-Piano hochgezogene Augenbrauen hervorzurufen vermag, verschwindet der pfeiferauchende Allround-Durchblicker und Name-Dropper allmählich, verdrängt von einer in diesem Biotop neuen Spezies, dem »Chiller«.

Jahrzehntelang erfolgreiche Überlebens- und Verdrängungsstrategien des Zausels haben gegenüber den immer zahlreicheren Chillern an Durchschlagskraft eingebüßt. Einschüchterung durch ungefragt abgegebene, sachkundige Kommentare zur Besetzung auf der gerade laufenden Lockjaw-Davis-Platte führen nicht mehr zum schüchternen Abrücken vom ehrfurchteinflößenden Thekennachbarn, sondern haben nur noch ein zwar verständnisloses, aber gar nicht schüchternes Lächeln zur Folge. Auch die Auskunft, auf jenem Foto vom Elvin-Jones-Konzert der zweite in der dritten Reihe zu sein, hat jegliche Wirkung verloren. Mehr als ein »Aha …« wird der Zausel nicht ernten, nur ganz junge und unerfahrene Exemplare des Chillers werden ein kleines »Elvis wer?« hören lassen und sich dann wieder ihrer Bionade zuwenden, womit gleichzeitig die ultimative Verdrängungsstrategie des Zausels, das Unter-den-Tisch-Trinken, ausgehebelt wird. Viel zu spezialisiert, um sich auf neue Futtersorten umstellen zu können, ist der Zausel verurteilt sein immer stärker schrumpfendes Biotop mit den sich rasant vermehrenden Chillern zu teilen. Vereinzelt und verängstigt sehen die letzten ihrer Art dem Aussterben entgegen.

Sei’s drum.

Veröffentlicht am unter Blog thing

Deutscher Jazzpreis 2024

2 Kommentare zu „Bedrohte Arten, Folge 2: Der Zausel“

  1. Naja, so ganz traurig braucht man darüber eigentlich nicht sein:
    Diese ganzen Heinis aus dem Postgraduierten Oberseminar sind einfach die Definition einer Spassbremse.
    Mir gehen die eigentlich nur auf den Wecker, mit diesem ewigen Früher-war-alles-besser-wisser-Getue ist einfach unerträglich.

    Und für die definiert sich „Jazz“ doch letztendlich eh über: „Wenn erfolgreich, dann kein Jazz“…

  2. Ja, das habe ich auch schon öfter erlebt, dass man mit Leuten ohne entsprechendes Wissen zwar oft aber nicht erkenntnisorientiert streiten kann.

    Die Figur des Zausels scheint mir ein bisschen überspitzt dargestellt zu sein. So gibts den doch gar nicht.

    Wenn unter Chiller ein Anhänger der Nujazz- Chill- und Lounge-Bewegung gemeint ist, der sich von nicht endenden Loops und Klangklötzchen berieseln lässt und dann denkt, er habe Jazz gehört, dann bin ich ein Zausel.

    Und Spaßbremse… dass ich nicht lache.

    Es ist doch vielmehr so, dass die Entwicklung im jazz ist wie in unserer gesamten Gesellschaft. „Quick and dirty“. Ob fehlender Kreativität bei gleichzeitig ständigem Druck, was neues generieren zu müssen, weil man glaubt, dass neu=besser ist, ergeht man sich in Collage von bestehendem, macht Remixes und Remakes und lässt am Ende einen Kompressor drüberlaufen, damit alles schön dicht und synthetisch klingt und nennt das dann Jazz. das ist nicht Kunst, sondern eine Simulation derer.

    Früher war nicht alles besser; aber die Gegenwart hat massive Qualitätsprobleme bei der Lieferung.

    Off record:
    Vielleicht sollte man hier mal grundsätzlich diskutieren was Jazz ist, das wäre sicher eine interessante Diskussion… Pit?