Bill Carrothers

Castaways

(Pirouet/edel)

Bill Carrothers – Castaways (Cover)Schon seit Gunther Schuller versuchen Generationen von Musikgelehrten, tragfähige Brücken zwischen Jazz und Klassik zu bauen. Dass diese immer wieder einstürzen, liegt an einfältigen Crossover-Projekten, in denen lediglich Versatzstücke zusammengepappt werden, sowie an einem grundsätzlichen Unverständnis beider Genres füreinander. Dabei geht es bei der Konfliktlösung weniger um ein überliefertes Spielverständnis, sondern einzig um die Klarheit in der Musik. Der amerikanische Pianist Bill Carrothers gehört zu den ganz wenigen, die dies verstanden haben. Seine aktuelle Trio-CD „Castaways“ ist ein Musterbeispiel für eine tiefe innere Architektur, in der sich scheuklappenfreie Jazz- wie auch Klassikliebhaber zu Hause fühlen können. Carrothers, Drew Gress (Bass) und Dré Pallemaerts (Drums) konstruieren auf mehreren Wahrnehmungsebenen eine Aura voller zärtlicher, leiser Melancholie. Ob nun das bittersüße „Siciliano“ aus Bachs Konzert für Cembalo und Streichorchester, „Trees“, die schwebende Variation einer Harmoniefolge der ersten Takte des Mozart-Requiems, die kämpferisch-fragile dreiteilige „Scottish Suite“ oder die betörend schöne Hommage an Ausgestoßene und Schiffbrüchige im Titelstück: Kaum ein Trio versteht es derzeit, Emotionen musikalisch derart auf den Punkt zu bringen. Die große Kunst, mit kleinen Mitteln am offenen Herzen der Musik zu operieren.

Text
Reinhard Köchl
, Jazz thing 97

Veröffentlicht am unter Reviews

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