Gwilym Simcock

Der russische Faktor

Ein Klavier und ein Kontrabass im innigen Dialog. Das allein macht „Reverie At Schloss Elmau“ (ACT/edel) von Gwilym Simcock und Yuri Goloubev noch nicht zum Meisterwerk. Doch die Verzahnung, die weit über zwei individuelle Sprachen hinausgeht und ein ganzes Netzwerk von kulturellen Hintergründen allein mit zwei Instrumenten webt, verdient einzig das Prädikat „meisterhaft“.

Zitat: Ich mag Jazz überhaupt nicht, wenn es nur ums Spiel auf den Instrumenten geht.

Gwilym Simcock (Foto: Eric Richmond)

Jazz ist auf ihrem Duoalbum nur der Ausgangspunkt, der gemeinsame Grund, von dem aus Gwilym Simcock und Yuri Goloubev ihren mehrere Kulturen und Traditionen übergreifenden Dialog entfalten. Simcock sieht sich in erster Linie als interpretierenden Komponisten. Die wichtigsten Gestaltungselemente in all seinen Stücken seien immer die Melodie und die emotionale Reise, auf die er sich mit dem Hörer begibt. Eine Platte, ebenso wie ein Konzert, ist nicht nur die Sammlung möglichst vieler intensiver Momente, sondern ein konsequent gestalteter Bogen vom ersten Ton des ersten bis zum letzten Ton des letzten Stückes.

Dem kompositorischen Geschick des Pianisten ist es zu verdanken, dass er mit der Reichhaltigkeit seines narrativen Spektrums sehr behutsam umgehen kann, sodass es nie zu unvermittelten Brüchen kommt. Der Hörer kann sich einem sanft dahinfließenden Strom anvertrauen und wird nur ganz beiläufig wahrnehmen, wie sich die Ufervegetation verändert. Für den Waliser ist diese Anmutung eine selbstverständliche Voraussetzung seiner Arbeit.

„Ich will nicht nur eine solitäre Aussage treffen, sondern lieber viele verschiedene stilistische Richtungen auf einem Album manifestieren. Um all diese Einflüsse aber in eine logische Verbindung zu bringen, muss ich einen durchgehenden Faden finden. Nur so ergeben Vielfalt und Variation einen Sinn. Ich will ja nicht mit dem Hörer hin und her springen, sondern ihm immer das Gefühl geben, einem stringenten Prozess beizuwohnen.“

Innerhalb dieser fließenden Prozesse geht es nicht zuletzt darum, genug Platz zwischen komponierten und improvisierten Parts zu schaffen, damit sich diese beiden Prinzipien nicht permanent aneinander stoßen. Komposition ist für ihn verstetigte Improvisation, Improvisation hingegen flüssige Komposition.

„Die Tradition des Jazz gibt ja vor, aus wenig ausgeschriebenem Material ein Optimum an improvisierter Musik rauszuholen. Die Kompositionen werden zum Vehikel für die Improvisation degradiert. Vielleicht ist es meinem klassischen Background geschuldet, dass ich lieber mehr komponierte Musik höre. Die Trennung von Komposition und Improvisation finde ich nicht sehr sinnvoll. Ich suche nach stimmigeren Übergängen zwischen beiden Prinzipien, sodass man auch mehr Möglichkeiten der gegenseitigen Durchdringung hat und die Musik als Ganzes mehr Befriedigung bringt. Ich mag Jazz überhaupt nicht, wenn es nur ums Spiel auf den Instrumenten geht“

- was man von „Reverie At Schloss Elmau“ beim schlechtesten Willen nicht behaupten kann.

Simcoc & Goloubev – Duo Art. Reverie at Schloss Elmau (Cover)Simcock und Goloubev stehen eher in der Tradition der großen impressionistischen Komponisten, sie lassen ihre Instrumente singen und atmen. Dem Hörer bleibt alle nur erdenkliche Zeit, sich einzulassen. Letztlich geht es Simcock als Komponist genauso. Die Improvisation gibt einen Zustand des Augenblicks wieder, der sich unablässig ändert. Die Komposition ist aber ein viel allgemeingültigeres Prinzip, das weit über den Augenblick hinausgeht. Das Leben jedes Menschen werde von der ständigen Verhandlung zwischen Augenblick und grundlegender Identität bestimmt. Die Musik könne dem Leben nur gerecht werden, wenn sich diese beiden Pfeiler der veränderlichen Existenz berühren.

Simcock hat große Orchesterwerke geschrieben, aber das Duo mit Yuri Goloubev, der zu der CD ebenso viele Kompositionen wie der Pianist beisteuert, ist eine besondere Situation, und das nicht nur, weil der Waliser in die Rolle der großen russischen Pianovirtuosen des 20. Jahrhunderts mit ihrer unglaublichen Emphase schlüpft. Auch Goloubev hat einen klassischen Background, was beiden eine gemeinsame Basis gibt. Goloubev und Simcock gehen weniger vom Rhythmus aus als von den Harmonien, denn Harmonien haben laut Simcock einen wesentlich stärkeren Einfluss auf die Gefühle des Hörers als Rhythmen. „Russische Musik war für mich schon immer wichtig, weil mein Vater sehr viel russische Klassik gehört hat“, so Simcock.

„Prokofjew, Strawinski, Rachmaninow und all diese Komponisten waren ein wichtiger Bestandteil meiner Kindheit. Ich wusste nicht, was das war, aber es hat mich geprägt. All das kommt auch in Yuris Musik heraus. Das ist für mich eine wichtige Inspiration.“

Text
Wolf Kampmann

Veröffentlicht am unter 102, Feature, Heft

Deutscher Jazzpreis 2024