Anthony Joseph

"Lyrik ist die Seele der Sprache."

Der Poet und Musiker Anthony Joseph, geboren 1966 in Trinidad, seit über 22 Jahren in London lebend und als Dozent für kreatives Schreiben am Birkbeck College wirkend, geht nach drei Alben mit seinem Projekt The Spasm Band, die jeweils von der Veröffentlichung eines Gedichtbands begleitet waren, einen sich vom bisherigen Ansatz lösenden Schritt. Das neue Album „Time“ (Naive/Indigo) produzierte nun Meshell Ndegeocello. Sie stellte Anthonys beobachtende und sehr berührende Lyrik in den Vordergrund.
Anthony Joseph (Foto: Hidiro)
Anthony Joseph über …

… Frauen:
Vielleicht lag es an der Zusammenarbeit mit Meshell, dass all diese Gedichte über Frauen aus mir herausflossen. Das Arbeiten mit ihr öffnete definitiv einen Pfad zu einigen Energien von Göttinnen. Frauen hatten den größten Einfluss auf mich, viel mehr als die männlichen Figuren in meinem Leben. Meine Mutter, meine Tante, meine Großmutter – sie waren diejenigen, die mich aufzogen und lehrten. Mein Vater fehlte. Mein Großvater war … schwierig. Als ich die Texte zu diesem Album schrieb, traten all diese weiblichen Figuren hervor, sehr natürlich, und sie wollten anerkannt, berücksichtigt werden.

… Meshell Ndegeocello:
Ich war in den Büros von Naive Records in Paris, um einige Interviews zu geben. Plötzlich kam Meshell einfach so herein und sagte: „Ich wollte nur mal kurz ‚hallo‘ sagen, dich treffen, ich liebe deine Arbeit.“ Wie du dir vorstellen kannst, war das ein kleiner Schock. Wir tauschten E-Mail-Adressen aus und blieben in Kontakt. Dann fragte ich sie einige Monate später, ob sie interessiert wäre, mein nächstes Album zu produzieren. Sie sagte zu, allerdings unter der Bedingung, dass sie mehr ein auf Lyrik fokussiertes Album als ein „Band“-Album machen könnte. So kam das auf magische Art und Weise zusammen.

… „Time“ – Zeit:
Zeit ist unsere Maßeinheit für Realität, und Realität ist Sprache, und Poesie ist die Seele der Sprache. Zeit ist das, was uns zusammenhält und verbindet. Meshell hat auch etwas mit den Takten getan, den Rhythmen dieses Albums. Manchmal verlässt sie diese komplett oder begibt sich in ihr ganz eigenes rhythmisches Feld. Der Effekt dessen ist, dass wir uns im Kopf vorwärtsbewegen, aber der Körper fast innehält, verharrend in einem Groove, der nicht loslässt. Wie in den Songs „Time“ oder „Shine“. Fela machte das so, Miles auch. Sie manipulierten damit die Zeit.

… Politik in der heutigen Musik:
Die heutige Musikindustrie ist nicht interessiert daran, politische Statements abzugeben. Außer wenn diese genügend Kontroversen erzeugen, um Geld damit generieren zu können. Aber Künstler werden immer einen Weg finden, Statements abzugeben, und von Zeit zu Zeit hörst du auch aufrührende Worte – vielleicht nicht mehr so deutlich wie bei Marley, den Last Poets oder Fela Kuti, aber manche von uns sagen immer noch etwas, man kann uns nur immer schwerer hören im ganzen Krach. Es gibt auch eine Art Lethargie dabei, ein Gefühl, dass alles schon gesagt sei, besonders in Bezug auf das Thema „Rassen“. The Last Poets und Fela trieben dies in eine Ecke und brachten es auf den Punkt. Wir leben in einer Zeit, in der Information nur einen Klick weit entfernt ist. Wir glauben damit schnell, alles zu wissen. Das macht es für Poeten schwierig, etwas Neues zu sagen. Aber solange wir in Gesellschaften leben, in denen es Ungerechtigkeit, politische und legale Irreführung und eine unbalancierte Verteilung der Ressourcen gibt, werden wir dies immer weiter kommentieren!

Exklusiv für Jazz thing: ein bisher unveröffentlichtes Gedicht von Anthony Joseph:

Excerpt from The Kora (Woman with her throat cut)

We moved through the din and dank covered market,
Warped African vinyl were dusty grooves in floorless rooms
of sacrilege. Nothing there was worth returning
In the dirt lay fragments of memory,
broken instruments, of ancient wood. A Kora
in the dust, like Giacometti
but not twisted but black, iron and yet
a complex science
of silence in the wound of it. Sound:
the strings stretched taut across the bridge,
cryptic ribs and knots and levers.
When the instrument inhaled
/deeply/
its bowl expanded,
unpolished bare wood and animal smell, dead
yet still breathing.

Above us the dark hills were built from bone and rock,
each crevice hid a home, folded flat by day. We had walked
through the desert to find illicit goods, illegal rice, surrealist butter.
Show me a stairway, the stairway which had no balcony,
like steps up the neck of a sphinx,
where the edge seemed dim and grinning,
- high -
a curious death.

We had taken a country drive in a leatherette heat,
deep east of the island, along a squatters path
to a harbor of flax and vine, blue and yellow bright
on stilts and under: herbal dirt, secrets kept.
Memory ghost of my father, leaning against the pillar post
like it was a gleaming Ford Falcon.
His grin alone, I know
Would pump energy, irrigate the region.

So we kept on.

(AJ 2013)

Text
Michael Rütten
Foto
Hidiro

Veröffentlicht am unter 102, Feature, Heft

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